Brettspiele haben in den letzten Jahren einen wahren Boom erlebt, nicht nur pandemiebedingt. Doch welche Menschen stecken hinter einem Spiel, als Autoren, Erfinder, Entwickler, Gestalter? Selten fand das Metier einen literarischen Niederschlag. Bis nun Sascha Machts Spyderling auf den Plan tritt und mit den Mitteln der puren Imagination ein unheilschwangeres, vernichtendes, boshaftes Netzwerk spinnt. Von INGEBORG JAISER
Wir nähern uns dem Geschehen aus der Sicht einer jungen Spiele-Entwicklerin und Ich-Erzählerin. Vorname: Daytona (»Mein Name ist ein […] Superspeedway, auf dem über dreißig Rennfahrer in den Tod gerast sind«). Nachname: Sepulveda (»vor langer Zeit in der Wüste des nördlichen Mexikos davongeweht«). Beiname: »Die Verschwundene«, weil sie tatsächlich in den Wäldern von El Salvador verschollen war und dabei Schlimmes erfahren musste. Doch inzwischen nach Leipzig übersiedelt, hat sie sich als erfolgreiche Spielemacherin etabliert, furchtlos, neugierig, ambitioniert.
Willkommen im Club
So gehört Daytona auch zum erlauchten Kreis von namhaften Erfindern, die von einem legendären Guru namens Spyderling zu einem jährlichen Treffen eingeladen werden, um »der Völlerei, der Faulheit und der Wollust« zu frönen. Eine krude Mischung aus Thinktank, Workshop und Summerschool. Als Schauplatz und Kulisse der »Konsultation« dient das düstere, brutalistisch anmutende Herrenhaus eines abgelegenen ehemaligen Weinguts in der Republik Moldau. Hier treffen acht schräge, exzentrische Charaktere aufeinander, die sich Elke von Manteuffel, Campbell Campbell oder King Trakto Sherpa nennen und die bizarrsten Spiele ausgeheckt haben. Diese tragen abgefahrene Titel wie Space Congress 2815 oder Der Fleischplanet oder Du, ich & Roland Emmerich. Man kennt sich untereinander in diesem losen Netzwerk, schätzt, bewundert und hasst sich. Nicht anders als in der Musikbranche oder dem Literaturbetrieb.
Doch der ersehnte Auftritt des großen Meisters lässt auf sich warten. Ist er (sie, es?) vielleicht ein bloßes Hirngespinst, ein reiner Mythos? So hängen die einbestellten Spiele-Autoren am Pool oder in der opulent bestückten Ludothek herum, betrinken, begaffen und streiten sich, fallen übereinander her, knüpfen neue Seilschaften, erzählen Geschichten. Ein spannendes, hochexplosives Setting irgendwo zwischen Decamerone und Beauty & the Nerd. Dass sich ein verhängnisvolles Unheil zusammenbraut, lässt sich schon lange vor dem Auftreten einer transnistrischen Black-Metal-Band und dem Verschwinden einzelner Protagonisten erahnen.
Das Chaos der Wirklichkeit bändigen
Der Autor mag die Geschichte in Moldawien angesiedelt haben, um den äußersten Winkel unserer Wahrnehmung zu verdeutlichen, gefühlt so entlegen, »dass es auch auf einem winzigen dunklen Planeten weit jenseits unseres Sonnensystems hätte stattfinden können.« In den Jahren, in denen der Autor an dieser Story geschrieben hat, war nicht zu erahnen, welch unheilvolle Entwicklungen gerade zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches in Osteuropa eskalieren.
Schon früh lanciert Sascha Macht glasklare Erkenntnisse zum Metier des Spiels: »Ein Brettspiel zu entwickeln (ein Buch zu schreiben, ein Bild zu malen, ein Auto zu waschen, einen Mord zu begehen) bedeutet, das Chaos der Wirklichkeit zu bändigen und handhabbar zu machen.« Oder, von der anderen Seite aus betrachtet: »Ein wirklich gutes Brettspiel versetzt dir einen Stich in deiner schwächsten Minute, zwingt dich für ein paar Stunden dazu, dich mit der unbekannten Finsternis um dich herum zu beschäftigen, lässt dich aufschreien vor Glück und, jawohl!, rührt dich zu Tränen«.
Das Spiel ist aus
Das Wesen und die Philosophie der meisten Spiele liegt in einer kollektiven Rezeptionserfahrung und der »grundlegende(n) Fähigkeit des Menschen, sich mit etwas einverstanden zu erklären«, einer Schöpfung, einem erdachten Regelwerk, einer brüchigen Welt aus Pappe und Figuren. Doch Spyderlings eigene sinistre Werke scheinen alle Gesetze zu sprengen und zu konterkarieren. Als plötzlich ein düsteres Spiel namens Maunstein auf dem Weingut auftaucht, wird die Community gehörig aufgemischt.
Sascha Macht erschafft eine finstere Szenerie, die an einer brodelnden Überdosis von Gerüchen, Farben, Eindrücken zu ersticken droht. Die von ihm beschworene Parallelwelt zerbirst an maßlosen, seiten- und kapitellangen Aufzählungen, an ausufernden Spielebeschreibungen und detailverliebten Fantasien. Für einen Insider sicherlich ein großer Spaß. Wer dem Thema weniger verbunden ist, mag sich leider über weite Strecken langweilen, angesichts der ausufernden Aufzählungen und Ausschmückungen und der nicht enden wollenden Abfolge von Albträumen. Doch wer die fast 500 Seiten bis zum apokalyptischen Showdown durchhält, kann sich erschöpft die geröteten Augen reiben und erleichtert zurücklehnen. Vielleicht war alles nur ein Spiel?
Titelangaben
Sascha Macht: Spyderling
Köln: DuMont 2022
480 Seiten. 25 Euro
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