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Ein singulärer Aufbruch in die Moderne

Sachbuch | Uwe M. Schneede: Paula Modersohn-Becker

Sie war eine der solitären Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit, eine Wegbereiterin der Moderne und die erste Künstlerin, nach der ein Museum benannt wurde. Seit 1927 erinnert das Paula Modersohn-Becker-Museum in Bremen an sie. Als sie mit 31 Jahren starb, hatte sie mit ihrem Werk die »kurze Epoche zwischen dem Alten und dem Neuen, dem 19. Und dem 20. Jahrhundert künstlerisch wesentlich geprägt«, vor allem in Deutschland. »Erst nach ihr begannen die Avantgarden wie ›Die Brücke‹ und der ›Blaue Reiter‹ die weiterreichende Erneuerungsarbeit«, schreibt der renommierte Kunsthistoriker Uwe M. Schneede zu Beginn seiner brillanten und umfassenden Monographie »Paula Modersohn-Becker – Die Malerin, die in die Moderne aufbrach«. Von DIETER KALTWASSER

Das Buchcover zeigt ein gemaltes Porträt der Künstlerin Paula Modersohn-BeckerAm 8. Februar 1876 wurde Minna Hermine Paula Becker als drittes von sieben Kindern in Dresden geboren. 1888 zog die Familie nach Bremen um. Ab der letzten Oktoberwoche 1892 durfte Paula an der Londoner St. John’s Wood Art School Zeichenkurse belegen. Auf Wunsch des Vaters besuchte sie von 1893 bis 1895 das Lehrerinnenseminar in Bremen mit Abschluss im Herbst 1895; danach erhielt sie Zeichenunterricht bei dem Bremer Künstler Bernhard Wiegandt.

Im April 1897 sieht sie eine Ausstellung Worpsweder Künstler in Bremen und beginnt ein anderthalbjähriges Studium an der Mal- und Zeichenschule des 1867 gegründeten Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen. Im selben Jahr fasste die 21jährige den Entschluss, Malerin zu werden, gegen den Willen ihrer Familie, die ihr Egoismus vorwarf. »Ihr müsst mich schon alle mit meinem Egoismus nehmen, ich werde ihn nicht los, er gehört zu mir wie meine lange Nase«, beharrte sie auf ihrem Vorsatz. Sie war sich schon zu dieser Zeit der Konsequenzen bewusst, die ein Ausbruch aus dem bürgerlichen Ambiente haben würde. So notierte sie in ihr Tagebuch: »Ich glaube aber, wenn man es zu etwas bringen will, so muss man seinen ganzen Menschen dafür hingeben.« Später fügte sie hinzu: «Ich arbeite mit einer Leidenschaft, die alles andere ausschließt.« In diese Zeit fiel auch ihr erster Aufenthalt in Worpswede, wohin sie im September 1898 zog. Im selben Jahr begann die Freundschaft mit der angehenden Bildhauerin Clara Westhoff, der späteren Ehefrau von Rainer Maria Rilke, mit dem diese in ein Nachbardorf von Worpswede zog.

In der Silvesternacht 1899 trat Paula Becker ihre erste Reise nach Paris an; immer wieder sollte sie dorthin zurückkehren. Sie reiste einem ganzen Jahrhundert entgegen, dem »Jahrhundert der Moderne«, heißt es bei Schneede. Auf ihren zahlreichen Besuchen von Museen und Kunsthandlungen, oft mit Clara Westhoff, entdeckte sie Cézanne in der Kunsthandlung von Ambroise Vollard. Im Sommer kehrte sie zurück nach Worpswede und verlobte sich mit dem Maler Otto Modersohn, ihrem späteren Ehemann und Mitbegründer der dortigen Künstlerkolonie. An Sonntagen trafen sich die Künstler in Heinrich Vogelers Barkenhoff, zuweilen auch mit Gästen wie den Dichtern Carl Hauptmann und Rainer Maria Rilke.

Der Kunsthistoriker und frühere Direktor der Hamburger Kunsthalle Uwe M. Schneede untersucht das Werk Modersohn-Beckers aus der »für sie maßgeblichen Pariser Perspektive«. In Deutschland fehlten ihr letztlich die Anregungen. Die Künstlerin habe zwar »in Worpsweder die Stille zum Arbeiten« geschätzt und sie »bezog auch die Motive und die Tiefe ihrer Farben aus dieser herben Gegend, aber sowohl die Bildkonzeption als auch die Bildsprache verdankten sich Anstößen verschiedenster Kulturen in Pariser Museen sowie in aktuellen Ausstellungen, auch in Ateliers namhafter Kollegen.« Und daraus entstand ein »eigenständiges allein dastehendes Werk. Teils unmittelbar parallel zu Picassos grundstürzender Formerneuerung schuf sie in ihrer letzten Pariser Zeit 1906/07 die Hauptwerke: eine Malerin, die eigensinnig in die Moderne aufbrach, und zwar nach eigenem Zeugnis ›freudig als moderner Mensch und Kind meiner Zeit.‹« Einen Höhepunkt ihres Schaffens bilden für den Autor die Pariser Selbstbildnisse. »Sie präsentieren ein anderes Ich, das in seiner hieratischen Haltung wie ein archaischer Souverän und zugleich wie die Verkörperung einer unabhängigen Kunst anmutet.«

Zu dem, was sie in der Hauptstadt der Kunst lernte, gehörte auch, sich nicht um ein mögliches Publikum zu scheren, erfahren wir vom Autor. Beharrlich sei sie ihren Weg gegangen. »In dem Jahrzehnt, in dem überall in den Pariser Ateliers um die Autonomie des Bildes gerungen wurde, suchte auch sie formal und inhaltlich neue Möglichkeiten für eine eigengesetzliche, aber stets figürliche Malerei«, schreibt Schneede.

Mehr als nach einem ureigenen Stil zu suchen, erprobte sie die vielen stilistischen und malerischen Mittel ihrer Zeit, die sich »schließlich eigneten, Figuren zu überhöhen und so eine eigene bedeutungsvolle Ikonographie herauszubilden.« So erscheint Paula Modersohn Becker heute, so der Autor, »als eine singuläre, letztlich in Paris anzusiedelnde Künstlerpersönlichkeit«. Sie schuf mehr als 700 Bilder, das Werk einer solitären Künstlerin ihrer Zeit. Fast 100 Abbildungen sind im Buch versammelt und unterstützen Schneedes Analysen und Interpretationen eindrucksvoll.

Sie war eine Einzelgängerin, »ganz ähnlich wie die eine halbe Generation älteren Malerinnen, wie Helene Schjerfbeck in Finnland [und] Hilma af Klint in Schweden«, heißt es bei Schneede, aber sie war eben »auch ein singuläres Mitglied des Pariser Aufbruchs in die Moderne.« Ihre Gestalten bilden, resümiert der Kunsthistoriker am Ende seines äußerst lesenswerten Buchs, »einen eigenen Stand ohne Geschlechtlichkeit. Es sind Wesen, die alles enthalten, was die Künstlerin formal wie inhaltlich erprobte. Sie entsprechen ihrem Kunstverständnis und sind deshalb als Verkörperungen einer nachdrücklich auftretenden, gegen Konventionen gerichteten, in die Zukunft weisenden Kunst zu verstehen. […] So personifizieren diese Wesen das Selbstverständnis einer Künstlerin, die innerhalb weniger Jahre eigensinnig in die Moderne aufbrach.«

Im Jahr 1906 trennt sich die Künstlerin von Otto Modersohn, verlässt Worpswede und zieht nach Paris. Ihre Hauptwerke entstehen. Sie macht gemeinsame Ausflüge mit Rilke und nimmt mit ihm auch an der Enthüllung des »Denkers« von Rodin vor dem Panthéon teil. Ende Oktober kommt Otto Modersohn nach Paris, mit ihm kehrt sie Ende März 1907 nach Worpswede zurück, auch wegen ihrer Schwangerschaft. Was sie an dem Ort suchte, war »Stille für die Arbeit«. Der Bildhauer Bernhard Hoetger schreibt in seinen »Erinnerungen an Paula Modersohn-Becker«, die Künstlerin habe die Menschen dort noch geliebt, »aber ihr Leben, ihre Tat selbst war einsam und blieb einsam.«

Am 2. November wird die Tochter Mathilde geboren. Am 20. November stirbt die Malerin Paula Modersohn-Becker an einer Embolie. Ihre letzten Worte waren: »Wie schade«. Die Bedeutung ihres Werks hatte zu ihrer Zeit kaum jemand erkannt. Dazu bedurfte es der Moderne, deren Wegbereiterin sie war.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Uwe M. Schneede: Paula Modersohn-Becker
Die Malerin, die in die Moderne aufbrach
München: Verlag C.H.Beck 2021
240 Seiten, 29,95 Euro
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