Na dann: Gute Nacht

Sachbuch | Veronika Wengert, Jörg Dauscher: Nachtzugreisen

Da scheint sich ein neuer Trend zu entwickeln: In Zeiten von Umweltschutz und Nachhaltigkeit, von Entschleunigung und mehr Genuss stehen Reisen in Nachtzügen immer höher im Kurs. Der Bildband wird diesen Trend beschleunigen, da ist sich BARBARA WEGMANN ganz sicher.

Das Foto zeigt eine Szene aus einem Nachtzugabteil. Betten sind vorbereitet, auf dem heruntergeklappten Tisch steht ein Zahnputzbecher.Eine versierte Reisejournalistin und ein passionierter Bahnfahrer laden sie ein: 20 Zugverbindungen quer durch Europa präsentiert das Buch, aber nicht irgendwelche Verbindungen. Hier geht es um Nachtzüge. Ich gebe zu, das trifft einen lang gehegten Wunsch bei mir, einsteigen, vielleicht noch einen Imbiss im Zug, schlafen gehen, am Morgen aufstehen und am Ziel sein, weit weg und ausgeruht: »Der Takt der Schwellen und Schienenstöße, das fahle Licht vom Gang, erst nur halb in den Schlaf sinken und dann plötzlich ganz, irgendwann erwachen, noch ganz wirr, wenn die Welt schon eine andere ist.« Als Studentin kannte ich Nachtzüge noch gut, damals gab es auch noch nicht die Billig-Konkurrenz am Himmel. Oder die »rückenschädigenden« Busverbindungen für weite Strecken. Eine »vorsichtige Wiedereröffnung« der Nachtzug-Reisen gebe es schon, so die Autoren in ihrer Bilanz, aber von einem wirklichen Netz könne man zurzeit keinesfalls sprechen, zu unterschiedlich hätten sich die Organisationen der Bahn in einzelnen Ländern entwickelt und wenig bis gar nicht werde der Wunsch verfolgt nach einem gemeinsamen, länderübergreifenden Nachtzugnetz.

So ist das Buch nicht nur eine wunderbare Einladung, sich näher mit dem Nachtzug, vielleicht ja von Hamburg nach Stockholm, von London nach Edinburgh, von Paris nach Barcelona, oder von Zürich nach Amsterdam zu beschäftigen. »Einschlafen mit Bergpanorama, Aufwachen mit Ausblick auf das flache Land, das am Abteilfenster vorbeizieht.« Das Buch ist auch ein Plädoyer und ein Aufruf an Europas Politik, die »heimliche und peinliche Förderung des Billigflugverkehrs« endlich zu beenden, entsprechende Strecken für Nachtzüge auszubauen, wieder zu beleben, Bürokratie abzubauen und generell in die Streckennetze zu investieren.

Manchmal sind es nur noch Teile alter Strecken, die in Betrieb sind. Alte Trassen werden genutzt, neue nicht weitergeführt, Erinnerungen an einstige, bestens funktionierende und beliebte Nachtzug-Strecken gibt es, aber zu wenige Befürworter für eine Neubelebung. Europäischen Nachtzügen fehlt eindeutig noch die europäische Lobby.

So erinnert auch die Strecke von Madrid nach Lissabon an alte Zeiten: Der, wie die Autoren schreiben, ebenso »legendäre wie defizitäre Nachtzug«, »Sud Express« verband ursprünglich Lissabon mit Paris »und galt nicht nur als Luxuszug, sondern war mit fast 100 km/h um 1900 der schnellste Zug der Welt.« Ob es die Strecke einmal wieder als Nachtzugstrecke geben wird, das ist zurzeit offen.
Aber es gibt auch wunderbar funktionierende Strecken, so die zwischen Brüssel und Prag, entstanden auf abenteuerliche Weise. Zwei Niederländer gründen eine Genossenschaft, »beteiligen Nachtzugliebhaber und finden einen großen Bahnpartner«. So kann man heute in Brüssel einsteigen und wird 14 Stunden später in Prag sein, 1100 Kilometer, 14 Stunden, ab 59 Euro.

Mit den ausführlich beschriebenen Routen, ihrer Geschichte, der Kritik an Zustand und Planung, den Visionen für die Zukunft auf nächtlicher Schiene gibt sich das Buch nicht zufrieden. Angereichert sind die vorgestellten Strecken mit kurzen Tipps und Hinweisen auf Start- und Zielorte sowie Highlights unterwegs.

Dazu ein bisschen Eisenbahngeschichte, ein Schuss Romantik auf der Schiene, ein kleines ABC des Nachtzugreisens. Das wirklich sehr schöne Buch, das nicht nur die Herzen von Eisenbahnfreunden höher schlagen lassen wird, es hat von allem etwas: Das Thema Nachtzug und seine Strecken, es wird unterhaltsam, historisch, mit Erzählenswertem ausgeschmückt und garniert, umrahmt von vielen, vielen Bildern und einem äußerst gelungenen Layout. Eine kurzweilige Reise auf anregenden Gleisen durch über 200 Seiten.

Trotz des aktuellen Kriegsgeschehens hat man sich übrigens entschieden auch die Route Wien-Lwiw und Moskau-Jekaterinburg im Buch zu belassen, schon allein, weil es zwei der schönsten Zugstrecken sind.

Das Vorwort des Buches schließt mit einem ungewöhnlichen Wunsch: »Möge dieses Buch zügig altern!« Nanu? Aber, man versteht’s sofort: »Mögen zahlreiche Strecken dazukommen … und mögen die Passagiere zahlreich in die Bahn umsteigen, um über Nacht ans Ziel zu kommen.« Auch von Pleiten, Pech und Pannen erzählt das sehr abwechslungsreiche bunte Potpourri: »Im August 2020 wurden Kurswagen eines Zuges aus Barcelona in Lyon einfach mal verwechselt. Sahen sich wohl zu ähnlich. 135 Passagiere trafen in Zürich statt in Mailand ein, und wer nach Zürich wollte, wurde an der italienischen Grenze von der Passkontrolle geweckt.«

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Veronika Wengert, Jörg Dauscher: Nachtzugreisen
Die schönsten Strecken Europas
Neuss: ConBook-Verlag 2022
224 Seiten, 24,95 Euro
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