Meister der Verstellung

Roman | Javier Marías: Tomás Nevinson

»Wer hätte an seiner Stelle nicht ebenso gehandelt, hätte nicht überlegt, den Abzug gestreichelt und die Versuchung empfunden, kaltblütig abzudrücken«, heißt es zu Beginn des letzten Romans des am 11. September verstorbenen großen spanischen Schriftstellers Javier Marías. Wir werden gleich wieder hineingezogen in diesen absolut singulären Strudel aus Geheimdienststory, Liebesroman und philosophisch-narrativem Epos. Von PETER MOHR

Nun ist die deutsche Übersetzung des ursprünglich erst für die Frankfurter Buchmesse vorgesehenen Romans Tomás Nevinson zum literarischen Vermächtnis des großen spanischen Autors geworden. Über sechs Millionen Exemplare seiner in 34 Sprachen übersetzten Romane, Erzählungen und Essays sind weltweit über die Ladentische gegangen. Seine verschachtelten und mit Querverweisen auf die Weltliteratur gespickten Romane werden in Spanien dem Pensamiento literario (dt. literarisches Nachdenken) zugerechnet – eine Art philosophisches Erzählen. Kein Wunder, war der Autor doch Sohn des bekannten spanischen Philosophen Julián Marías Aguilera (1914-2005).

Wir begegnen im letzten Roman etlichen bekannten Figuren aus früheren Werken – dem dämonisch daher kommenden britischen Geheimdienstler Bertram Tupra, der schon seit dem Erfolgsroman Dein Gesicht morgen (2002) für moralische Zwiespälte in Marías‘ Werken verantwortlich ist, wir treffen wieder auf Berta Isla, Titelfigur des Vorgängerromans und auf den leidgeprüften Tomás Nevinson, der sich an der Seite seiner Frau Berta im behaglichen Ruhestand wähnt, ehe er wieder einmal in die Fänge des britischen Geheimdienstes gerät. Verleumdung und Erpressung hatte ihn in grauer Vorzeit an den gnadenlosen britischen »Apparat« gefesselt.

Nevinson ist ein außerordentlich begabter Oxford-Absolvent mit geradezu enzyklopädischer Allgemeinbildung. Ein Mann, der unter unzähligen Namen gearbeitet hat, zum ungekrönten Meister der Verstellung avancierte und ein gefährliches Doppelleben führt. Seine Familie (seine Frau Berta Isla und seine zwei Kinder) war bisher außen vor, wussten nichts von seinen Aktivitäten für den britischen Geheimdienst. Sie schöpften zwar Verdacht, hatten vage Vermutungen, aber lebten in einem dichten Nebel der Ungewissheit.

Das ändert sich nun, als er in ein nordspanisches Provinzstädtchen beordert wird. Getarnt als Englischlehrer soll er eine ETA-Terroristin finden. Zum ersten Mal weiht er Berta ein klein wenig ein, zwar rätselhaft und verklausuliert, aber seine Ängste bekommen einen Namen: Bertram Tupra.

Den vorliegenden Roman kann man als Fortsetzung von Berta Isla (dt.: 2019) lesen, ein Buch, das vornehmlich aus der Perspektive der Ehefrau geschrieben wurde. Hier nun steht Nevinson auch als Erzähler im Mittelpunkt – mehr noch, es ist eine völlig männerzentrierte Erzählperspektive. Zu Beginn hat Marías einen herrlich altmodischen Exkurs eingeflochten, in dem es darum geht, wie sich wohl erzogene Männer gegenüber Frauen zu verhalten haben. All das wird durch die Handlung (wie bei Marías nicht unüblich) ad absurdum geführt.

Wer glaubt, einen anderen Menschen wirklich zu kennen, befindet sich auf dem Holzweg. Dieser Holzweg mit all seinen Unebenheiten und labyrinthischen Abzweigungen ist Marías‘ bevorzugtes literarisches Terrain.

Nevinson war stets zwischen Spanien und England, zwischen Gut und Böse unterwegs. Die Verbrechen werden widergespiegelt in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die moralischen Verwerfungen der Weltpolitik sind bei Marías auch im familiären Mikrokosmos abgebildet: Lüge, Täuschung, falsche Versprechungen, Verrat und Vertrauensbruch. Seine große Meisterschaft durften wir nun ein letztes Mal bewundern – wie er Momente einfriert und Bruchteile von Sekunden auf mehrere Seiten auszudehnen versteht. Wie er die Gewissensbisse von Tomás Nevinson spürbar macht, seine quälenden Selbstbefragungen und die zerfleischenden innere Monologe. Das ist große Literatur. Nicht spannend im herkömmlichen Sinn, es ist Ausdauer und Geduld erforderlich, weil Marías seine Figuren geradezu seziert, radikal und tief gehend, er bohrt ohne Betäubung an der Seele.

Auch der letzte Roman Tomás Nevinson bezieht seinen unnachahmlichen Glanz aus dem geheimnisvollen Changieren zwischen Vertrautheit und Fremde. Alles ist in der Schwebe, selbst im tiefsten Innern der Figuren gibt es Risse, die nicht mehr zu kitten sind. Die Figuren sind so zwiegespalten wie ihr Schöpfer, der gleichermaßen leidenschaftlich Shakespeare wie Real Madrid verehrte. Sein letzter Roman ist ein großes Vermächtnis – rätselhaft und inspirierend zugleich, ein Buch zum verlieben und zum verzweifeln. Auch ohne Nobelpreis wird Javier Marías in seinen Werken weiterleben.

| PETER MOHR

Titelangaben
Javier Marías: Tomás Nevinson
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2022
733 Seiten. 32 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Javier Marías in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ungewöhnliche Freundschaft

Nächster Artikel

Wettervorhersage: Es wird kalt!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Keine Leiche, kein Verbrechen

Menschen | Zum 80. Geburtstag von António Lobo Antunes erscheint der Roman ›Die letzte Tür vor der Nacht‹

Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird sein Name im Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselraten um die Verleihung des Nobelpreises in die heiße Phase geht. Nun ist der 29. Roman des Portugiesen António Lobo Antunes erschienen, der am 1. September 1942 im durch den Fußball bekannten Lissaboner Vorort Benfica als Sohn eines Arztes geboren wurde und selbst viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hatte. Von PETER MOHR

Geistreiche Realsatire

Roman | Marlene Streeruwitz: Nachkommen Wie schon in ihrem letzten Roman Die Schmerzmacherin (2011), in dem die Protagonistin eine Ausbildung in einer privaten Sicherheitsfirma absolvierte, hat die inzwischen 64-jährige österreichische Autorin Marlene Streeruwitz wieder eine junge Frau in den Mittelpunkt des Romans Nachkommen gerückt. Anders als jene Amy Schreiber aus dem Vorgängerroman darf man hinter der neuen Hauptfigur, der jungen Schriftstellerin (Cor)Nelia Fehn eine Streeruwitzsche Rückverwandlung vermuten, eine Art Jugend-Ego, das mit einigem Argwohn die ersten zaghaften Schritte auf der großen literarischen Bühne unternimmt. Gedanken von PETER MOHR zu Nachkommen von Marlene Streeruwitz’.

Stimmen aus dem Jenseits

Roman | Patrick Modiano: Unterwegs nach Chevreuse

»Bosmans hatte sich erinnert, dass ein Wort, Chevreuse, in der Unterhaltung immer wieder kehrte.« Mit diesem Satz eröffnet Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano seinen neuen schmalen Roman. Jean Bosmans ist ein Alter Ego des 77-jährigen französischen Autors. Ein Schriftsteller, der die siebzig überschritten hat und sich an seine Kindheit am südlichen Stadtrand von Paris erinnert – im idyllisch gezeichneten und etwas aus der Zeit gefallenen Chevreuse-Tal. Von PETER MOHR

Du musst nur den richtigen Knopf drücken

Roman | Junot Díaz: Und so verlierst du sie

Junot Díaz hat mit seinem Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (2012), einem erstaunlich kuriosen Debüt, überrascht. Jetzt legt er einen neuen Roman in 9 Storys ›Und so verlierst du sie‹ vor. Wieder geht es um einen jungen Latino, diesmal heißt der Ich-Erzähler Yunior, der manchmal peinlich naiv und ehrlich, dann wieder voll Selbstironie und kritischer Distanz über sein Leben plaudert. Ein erstes Geständnis verändert dabei nur scheinbar sein Leben. ›Und so verlierst du sie‹ ist absolut kein Entwicklungsroman. Oder doch? – fragt sich HUBERT HOLZMANN

Hübsche Frauen und der beste Jazz

Roman | Ulla Lenze: Der Empfänger
»Gutes Essen, hübsche Frauen und der beste Jazz der Welt.« So beschreibt Josef Klein, der Protagonist in Ulla Lenzes Roman ›Der Empfänger‹ seine Lebenswelt jenseits des Atlantiks. Als junger Mann von Anfang zwanzig war er 1925 aus Düsseldorf nach New York aufgebrochen, wo er seinen Lebensunterhalt als Drucker verdiente. Von PETER MOHR