/

Undercover im Hörfunk

Roman | Christine Lehmann:  Alles nicht echt

Im Journalismus glaubt Christine Lehmanns Lisa Nerz sich auszukennen, seit sie für den Stuttgarter Anzeiger gearbeitet hat. Aber Hörfunk ist etwas anderes als Print. Und jene fremde, im Roman namenlos bleibende Stadt, in der sich ihr neuer Arbeitsort und die kleine Wohnung, die sie von einer im Ausland weilenden Kollegin übernimmt, befinden, mutet selbstverständlich erst einmal unvertrauter an als das heimische Stuttgart. Aber was tut man nicht alles für den Mann, den man liebt. Und wenn der als Oberstaatsanwalt einen brisanten Fall von Datenklau in einem Landesfunkhaus der ARD nur lösen zu können glaubt, wenn er die unkonventionelle Lisa undercover in die Höhle des Löwen schickt, macht die halt das Beste aus dieser ungewöhnlichen Mission. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Abläufe in der Newsredaktion eines Landesfunkhauses sind auch für die medienerfahrene Lisa Nerz – schließlich hat Christine Lehmanns Heldin aus bereits 13 Romanen bis zu ihrem Rausschmiss für den Stuttgarter Anzeiger gearbeitet – eine Terra incognita. Deshalb heißt es, fast bei Null zu beginnen, wenn sie fern von Stuttgart als Undercover-Agentin in der Nachrichtenredaktion einer Landesmedienanstalt anheuert. Ihr Auftrag: herausbekommen, wer und auf welchem Wege sensible Daten über Angestellte und freie Mitarbeiter durch den unerlaubten Zugriff auf einen Rechner der Newsredaktion abgegriffen hat. Eine schwierige Aufgabe in fremder Umgebung und von Anfang an unter dem Verdacht stehend, die »Neue« sei ohnehin nichts weiter als eine Spionin »von oben«.

Lisa in der Radiowelt

Die heutige Stuttgarter Stadträtin Christine Lehmann hat jahrelang als Nachrichten- und aktuell-Redakteurin beim SWR gearbeitet. Deshalb sind ihr, anders als ihrer taffen Heldin Lisa Nerz, die Dinge, die in einer und um eine moderne Nachrichtenredaktion passieren, durchaus vertraut. Sie kennt den Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, mit ihren Beiträgen zur individuellen und öffentlichen Meinungsbildung in unserem demokratisch fundierten Gemeinwesen beizutragen. Aber natürlich weiß sie als Insiderin auch Bescheid über die Fehler im System.

Das kommt ihrem vierzehnten Lisa-Nerz-Roman Alles nicht echt durchaus zugute, weil sich in ihm nicht nur für Lisa Stück für Stück die Üblichkeiten, Geheimnisse und Tücken der Radiowelt zwischen einem HATÜ (einem sogenannten »halben Türken«) und einem »totalen Türken« (sprich: einem TOTÜ) erschließen, sondern auch für die Leserinnen und Leser eines Romans, in dessen Struktur auf durchaus unterhaltsame Weise reichlich Insiderwissen eingeflossen ist.

Zwei knifflige Fälle

Aber natürlich geht es, wenn Christine Lehmanns unkonventionall-taffe Heldin irgendwo auftaucht, letzten Endes auch um ein Verbrechen und dessen Lösung. Diesmal sind es sogar zwei Fälle, die Lisa umtreiben. Denn außer ihrem Undercover-Auftrag beschäftigt sie mehr und mehr der Mord an einer jungen Ukrainerin. Deren Leiche wurde kopflos in einem der die Stadt durchziehenden Wasserläufe gefunden. Hat die als Pflegekraft ihren Unterhalt verdienende Medizinstudentin Anna Malynka tatsächlich bei einem prominenten Auftraggeber einen Raum mit Nazi-Devotionalien gesehen und fotografiert? Und wurde daraufhin zum Opfer eines Mannes, der sich einen Skandal dieser Größenordnung aufgrund seiner exponierten gesellschaftlichen Position partout nicht leisten konnte?

Alles nicht echt spielt an einem Ort, der im Roman nicht beim Namen genannt wird. Stattdessen ist die Rede von einer »flachen Stadt, in der so viele gegensätzliche Erzählungen über die Welt aufeinanderprallten und keine glaubwürdig erschien«. Wer sich im Osten Deutschlands etwas auskennt und weiß, in welche größere Stadt man von Stuttgart aus in gut dreieinhalb Stunden Autofahrzeit – so lange braucht der neunmalkluge Staatsanwalt und Nerz-Mann Richard Weber, um Lisa aus der »Fremde«, in der er sie entsandt hat, am Ende ihrer Mission wieder abzuholen – gelangen kann, wird schnell erraten, wo Lehmanns Heldin ihr 14. Abenteuer erlebt. Auch einige unverkennbare Hinweise auf örtliche Sehenswürdigkeiten und die Stadt umtreibende Skandale sind hilfreich bei der Identifizierung des Ortes der Handlung. Im Grunde aber ist das Wissen darüber, wo ihr Roman spielt, nicht wirklich wichtig und wird vielleicht gerade deshalb von der Autorin auch so spielerisch verschleiert.

Es geht um deutsche Befindlichkeiten

Denn auf die Probleme, mit denen sich Lisa Nerz im Laufe ihrer Undercovermission auseinanderzusetzen hat, kann man heute überall in Deutschland stoßen. Es sind beileibe keine spezifisch ostdeutschen Befindlichkeiten, auf die Lehmanns Heldin fern ihrer schwäbischen Heimat trifft, sondern es handelt sich um Dinge, die uns allen tagtäglich in unseren realen Leben begegnen, über die wir uns mit anderen Menschen austauschen und die des Abends noch einmal als Nachrichten aus den Medien in unsere Wohnzimmer dringen.

Es geht um Populismus, Geschichtsvergessenheit und die zunehmende »Lust am Hass«, um »Cancel-Culture, Woke-Wahn und Moralapostel«, Feminismus und das Für und Wider einer Sprache, in der sich alle wiederfinden sollen, sowie nicht zuletzt um die Frage, ob nicht zu viel »Infotainment« die politische Relevanz dessen, womit uns unsere Medien die Welt erklären, mindert. Und natürlich geht es auch um zunehmende Gewalt und nachlassendes Aufeinanderhören, Geschrei, das Diskussionen ersetzt, Schwurbeln statt Argumentieren. Letzten Endes also um alles, was uns im Hier und Heute umtreibt, ärgert, verstört und aufwühlt.

Locker, unterhaltsam und erhellend

Dass Lisa Nerz am Ende ihre beiden Fälle löst – keine Frage. Sie tut es mit Findigkeit und Witz, viel Selbstbewusstsein, etwas Chuzpe und – wenn nötig – auch Härte. Dass sie ihren Leserinnen und Lesern dabei auf durchaus lockere Weise auch die Radiowelt näherbringt, ist so aufschlussreich wie erhellend. Und unterhaltsam sowieso. Wer dabei gedacht hat, dass Christine Lehmann dank ihrer über zwei Jahrzehnte vor Ort gemachten Erfahrungen mit ihrer eigenen Meinung vornehm zurückhält, hat sich im Übrigen verschätzt. Denn was sie wirklich denkt, bringt die Autorin auch mit diesem vierzehnten Roman ihrer wunderbaren Lisa-Nerz-Reihe sowohl unterhaltsam wie auch mit dem nötigen Nachdruck versehen an die Frau und an den Mann.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Christine Lehmann: Alles nicht echt
Hamburg: Ariadne im Argument Verlag 2024
334 Seiten. 16 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Mehr zu Christine Lehmann in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mondnachtzauber

Nächster Artikel

Begeistert von Macbeth

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Ein merkwürdiges Gespann

Jugendbuch | Patrick Wirbeleit: Ich und Tod Detektei

 
Beinahe wäre der Sprung, den Lukas wagt, schiefgegangen. Beinahe. Als er wieder zu sich kommt, findet er eine merkwürdige Gestalt neben sich: den Tod. Lukas ist nicht tot, aber der Tod von da an immer wieder in seiner Nähe. Von ANDREA WANNER

»Wer ins Wespennest sticht, wird gestochen«

Film | Im TV: TATORT 902 Abgründe (ORF), 2. März Die beiden dürfen das. »Wir arbeiten in einem unfassbaren Saustall.« Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) klären auf. Abgründe bildet Strukturen eines von Betrug, Lügen und Fälschungen durchsetzten Polizeiapparats ab, von Schmiergeldzahlungen und Verflechtungen mit lokalen Wohnungsbauunternehmen, der Film Noir erlebt seit einiger Zeit sein zaghaftes Revival im TATORT. Von WOLF SENFF

Allein gegen die CIA

Roman | James Rayburn: Sie werden dich finden James Rayburn ist eines der beiden Pseudonyme, unter denen der bekannte Thrillerautor Roger Smith seit 2013 auch Spionage- und Horrorromane schreibt. In Sie werden dich finden lässt sich eine Ex-CIA-Agentin, die nach dem Tode ihres Mannes zur Whistleblowerin geworden ist, auf einen Kampf mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber ein. Mit ihrer kleinen Tochter flieht Kate Swift um die halbe Welt, gejagt von Feinden, mit denen sie einst Seite an Seite gekämpft hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Vierundachtzig plus vier

Film | Im TV: ›TATORT‹ Schwerelos (WDR), 3. Mai   Wie machen sie das, sofort ist man drin und dabei handelt es sich doch lediglich um die üblichen routinemäßigen Anrufe, das Klingelgeräusch langweilt sonst nur, wie kriegen sie das gebacken. Ach und die Suche nach dem Fallschirm in der stillgelegten Grubenanlage, der Blick aus dieser Höhe macht schwindeln, so liebevoll sind sie um uns bemüht. Von WOLF SENFF

Vier Folgen à neunzig Minuten

Film | Serie | Im TV: Das Verschwinden am 22., 29., 30., 31. (ARD) Der Schluss kommt hammerhart. War das ein Krimi? Schon, gewiss, ja, doch das interessiert weniger. Und nein, eine Schusswaffe taucht nirgendwo auf. Eine vierteilige Serie, jeder Teil hype-mäßig als Doppelfolge angekündigt, also voll das Gewese. Und? Lohnt sich’s? Ja, das würde WOLF SENFF so sagen, doch, unbedingt.