Udo Grashoff: Zoo

Neuer Wort Schatz II | #2 Udo Grashoff: Zoo

Udo Grashoff: Zoo. Vorgestellt von CARL-CHRISTIAN ELZE

Zoo

sie schlafen noch nicht,
sie kommen ganz langsam
aus ihrer Apathie
an den Rand der Betonfestung
wo wir uns nebeneinander gehockt haben,
jenseits des Jauchegrabens
unter das Mondlicht
um sie zu sehen,
weiße Wölfe, einer kommt nach dem anderen
vor an die Kante
bleibt stehen,
du ziehst deine Hand aus meiner Hand
sie blicken dich an

Udo Grashoffs Gedicht tritt leise und langsam, Zeile für Zeile, immer näher an uns heran, genau wie die weißen Wölfe, die ganz langsam bis an den Rand ihrer Betonfestung kommen. Am Ende blickt es uns mitsamt seinen Wölfen tief in die Augen und tief ins Herz, dass wir darüber sanft erschrecken müssen. Genauso erschrecken müssen, wie die Personen innerhalb des Gedichts.

Doch worüber erschrecken wir? Warum können wir uns plötzlich vorstellen, dass auch wir beim Anblick dieser weißen Wölfe unsere Hand von der Hand eines vertrauten Menschen lösen? Und warum können wir plötzlich auch den Schrecken so gut erahnen, der dieses Ich im Gedicht befallen muss, als es sieht, dass sich unsere Hand von seiner Hand löst? Was hat das zu bedeuten? Welche inneren Kräfte wirken hier?

Fast erweckt das Gedicht den Anschein, nur erzählen zu wollen, doch führt es uns am Ende zu seinem Geheimnis, das wir nicht so einfach durchschauen können. Im Grunde handelt es sich um ein Geheimnis, das kein wirkliches Rätselraten erfordert. Das merken wir daran, dass uns die Reaktion der Person, die ihre Hand wegzieht, nicht völlig abwegig erscheint, und doch sind wir nicht wenig hilflos darin, dies alles zu erforschen. Genau das ist die große Stärke dieses Gedichtes. Nachvollziehen und nachfühlen können wir es bereits von Anfang an. Aber uns selbst verstehen in diesem geglückten Nachvollziehen, das können wir noch lange nicht. Also erneut die Frage: Worüber konnten wir so erschrocken sein?

Wir sitzen zusammen mit einem Menschen, dem wir gerne unsere Hand anvertrauen, im Zoo vor einem Gehege mit weißen Wölfen. Natürlich steht mir als Leipziger sofort der graue Betonfelsen mit dem trüben Wassergraben vor Augen, der im Leipziger Zoo die Bühne für die Weißen Wölfe abgibt, und ich nehme an, auch Udo Grashoff, der in Leipzig lebt, kennt alles ganz genau. Das Paar im Gedicht hat die Nacht abgewartet, was sicher nicht ganz einfach ist im Zoo, man muss sich verstecken und sich einschließen lassen. Eine andere Erklärung wäre, es ist ein später Nachmittag im Winter. Man beobachtet hingehockt und Hand in Hand die weißen Wölfe, die ganz unzweifelhaft wunderschöne Tiere sind und eine große Faszination ausüben. Man beobachtet im Mondlicht ihre schneeweißen Felle auf dieser nahezu hundertjährigen grauen Betonanlage, die an Eintönigkeit kaum zu übertreffen ist. Die Wölfe schlafen noch nicht und befreien sich langsam aus ihrer Apathie. Sie treten einer nach dem andern an den Rand des Jauchegrabens und blicken uns an.

Aber was genau blickt uns da an? Sind es unsere gefangenen Brüder und Schwestern, die sich plötzlich zu erkennen geben und uns sogar den Geliebten kurz vergessen lassen, mit dem wir nicht gleichen Blutes sind? Oder ist es ein noch unheimlicherer Spiegel, der uns für Sekunden vorgehalten wird, in der Art, dass wir uns selbst erkennen in diesen hellen wölfischen Augen? Erkennen wir plötzlich unsere Gefangenschaft auch jenseits des Jauchegrabens in diesem Gehege, das größer ist und Welt heißt? Erschrecken wir vielleicht so maßlos darüber, dass wir alle Gefangene sind in unseren Körpern und unsere Befreiung immer auch Tod heißt? Blickt uns auf unbestimmte Weise unser Tod an, den wir so fürchten? Müssen wir deshalb die Hand aus der Hand des Geliebten ziehen, weil wir plötzlich nicht mehr von seiner Existenz getröstet werden können in diesem ungeheuerlichen, mondlichtigen und wolfäugigen Angriff von Einsamkeit und Verlassenheit?

Oder ist alles ganz anders? Ist es gar kein Erschrecken, das uns widerfährt? Ist es vielmehr eine große, fast übernatürliche Verlockung, der wir gegenüber stehen? Und wenn ja, was lockt uns da, dass wir die Hand aus der Hand des Geliebten ziehen?

| CARL CHRISTIAN ELZE

Gedichte mit Neugier und Genuss zu lesen – das ist das Ziel der Reihe ›Neuer Wort Schatz II‹, die jede Woche einen zeitgenössischen Text vorstellt. Zusammengestellt wird sie von GISELA TRAHMS und DANIEL GRAF.

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