/

Besorgte Juristen

Gesellschaft | O. Depenheuer, C. Grabenwarter (Hgg.)
Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht

Langsam dämmert es nicht nur den wachen Zeitgenossen: Die Fluchtbewegung, die jetzt auch bis zu uns führt, ist kein Intermezzo, sondern wohl Vorbote künftiger massiver Migrationen – Stichwort Klimawandel. Eine knackige Herausforderung, für die humanitären Kräfte einer Zivilgesellschaft wie für ihre demokratischen Fundamente, zumal in Zeiten des viralen Alarmismus. Gut, wenn sich Experten die Lage mal gründlich ansehen. Von PIEKE BIERMANN

Staat in der FlüchtlingskriseJuristen, in diesem Fall. Die sich ja gern selbst als ideologiefrei rühmen. Wenn sich also sechzehn Staats-, Menschen-, Europa-, Verwaltungs- und Verfassungsrechtler zusammentun – die meisten Akademiker, manche mit Praxiserfahrung –, darf man Unvoreingenommenheit lege artis erwarten, neue Perspektiven, fundierte Argumente auch für »Laien«.

»Die Sache des Politischen steht wieder auf der Tagesordnung«, freuen sich die Herausgeber einleitend, und man freut sich mit, nämlich auf den politischen Elan des bürgerlichen Ärmelaufkrempelns oder die neue Entscheidungsfreude der Kanzlerin und ihrer »Yes, we can!«-Ruckrede. Aber weit gefehlt – diese Juristen sind furchtbar besorgt: »Das Volk wird stummer Zeuge der Erosion seiner kollektiven Identität«. Angesichts hunderttausendfachen ehrenamtlichen Engagements jenes »Volks«, das nicht zuletzt die hochdotierten Institutionen vor dem Kollaps bewahrt, ist das gelinde gesagt respektlos. Man kann’s auch dreist nennen.

Und es kommt noch ärger. In fünf Themenblöcken widmen sich die Autoren den juristischen Komplexitäten der »Flüchtlingskrise« von Grundgesetz bis Unterbringung. Aber zumeist gar nicht ideologiefrei, sondern häufig hart an der Sprachkante zu anderen, den notorischen »besorgten« Mitbürgern. Einer sieht »die gegenwärtigen Zeiten in Deutschland geprägt von einer politischen Schönrednerei und Hypermoral« – ein Arnold Gehlenscher Topos –, und zwar durch »das Denken in den Kategorien der Verallgemeinerung, der Universalisierung, der Menschenrechte und Menschenwürde«, welches leider-leider »nachhaltige Spuren in der Umgangs- ebenso wie in der politischen, aber auch in der staatsrechtlichen Sprache und Kultur hinterlassen« habe, was »der sachbezogenen und offenen politischen Diskussion staatsrechtlicher Grundfragen nur noch enge, moralisch überwachte Korridore zulässiger Argumentation« lasse: »Damit werden politische Probleme buchstäblich unsagbar.« Das ist nicht weit entfernt von angeblich herrschenden Sprachverboten und »Gutmenschen«-Bashing, nur einen Hauch vornehmer ausgedrückt.

Andere beschwören eine »zerfallende Gesellschaft«, einen »entgrenzten Staat«, »rechtsstaatliche Dekadenz«, als hätten eine geschätzte Million Flüchtlinge die arme Bundesrepublik zum failed state gemacht. Ein Autor erkennt auf »einen romantischen Überschuss« bei den politischen Eliten. Der BGH wird mal eben – wegen seiner Betonung der Menschenwürde – als »Karlsruher Schönwetterjudikatur«, Gesinnungsethik als »Fluchtstrategie aus der Verantwortung« verhöhnt. Fast alle Beiträge verströmen unterschwellig antieuropäisches Ressentiment. Mal in Form von Rufen nach »Wahrung der nationalen Identität« und »nationalem Selbstbewusstsein«, mal als Verbalinjurien gegen universalistische, kosmopolitische Positionen. Auch unverhohlener »Deutschismus« ist dabei, wo ein Autor freihändig mit dem Sarrazinschen Fertilitäts-Abakus errechnet, 2020 werde das hiesige Staatsvolk zu 40 Prozent »nicht-deutschstämmig« sein. Wenn dann noch »die Medien« als Herrscher »über die Gemüter« bezeichnet werden, die »das politische Klima machen«, klingt das Ganze auch wieder unappetitlich anschlussfähig an das Geschrei von »Lügenpresse« und »Volksverräter«.

Da helfen auch die wenigen interessanten Beiträge nichts, in denen zum Beispiel die Reibereien zwischen der »Kälte des Rechts« und der »Wärme des Willkommens« auseinandergenommen oder das durch nichts aus der Welt zu rabulierende Dilemma Menschenrechtsprinzip versus menschenunfreundliche Realitäten politisch reflektiert werden. Sie können den kasuistischen Furor, den alarmistischen Generalbass nicht übertönen, mit denen hier – passend zur aktuellen Praxis der usual suspects – die Re-Nationalisierung der Politik theoretisch nobilitiert werden soll. Beunruhigend daran ist nicht nur, dass dieser Band in einem renommierten Fachbuchverlag erscheint und fast alle Beiträger auch werdende Juristen ausbilden. Beunruhigend ist vor allem, wie unlogisch unsere angeblichen juristischen Eliten denken: Wenn sie wirklich besorgt um legitime nationale Interessen wären, müssten sie ihre grauen Zellen und ihre publizistischen Möglichkeiten auf andere, sehr reale Bedrohungen werfen – NSA & Co oder Finanzkriminalität, zum Beispiel.

| PIEKE BIERMANN

Titelangaben
Otto Depenheuer, Christoph Grabenwarter (Hg.)Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht
Schönburger Schriften zu Recht und Staat, Bd. 5
Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 2016
270 Seiten, 26,90 EUR
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Lesezeichen

1 Comment

  1. Die Rezension ist ein schönes Beispiel, wie Gutmenschentum und sprachpolizeiliches Ordnungsdenken zu einer emotionalen Abwehrreaktion führen („respektlos“, „dreist“, „kommt noch ärger“), die dann aber letztlich doch sprachlos und intellektuell einfältig ist – außer Erregung über die Verletzung eingespielter Sprachregeln finde ich nichts.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Banalität der Familie

Nächster Artikel

Music Restricted Area: April’s New Albums Reviewed

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Die Freude am Spiel wird geklaut

Gesellschaft | Dilger / Fatheuer / Russau / Thimmel: Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie Südafrika 2010 sind »die Einnahmen der Fifa gegenüber der letzten WM in Deutschland im Jahr 2006 um mindestens fünfzig Prozent gestiegen«. Da wussten sie doch, die Brasilianer, was sie erwarten würde. Oder? Aber Lula, bis 2010 Präsident Brasiliens, war offenbar närrisch, wenn es um Fußball ging. Von WOLF SENFF

Die Deutungshoheit über »Verschwörungen«

Gesellschaft | Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft Der französischer Soziologe Luc Boltanski veröffentlichte im Jahr 2003 mit Eve Chiapello Der neue Geist des Kapitalismus. Sein neues Werk spielt eine andere Melodie, er knüpft an Methoden der Literatursoziologie an, an Lucien Goldmann und Pierre Bourdieu, die auf der Grundlage der Abbildtheorie von Literatur und Gesellschaft sich der Ästhetik literarischer Werke zuwandten. Luc Boltanski widmet sich dem Genre Kriminalroman/Spionageroman – ein vielversprechender Ansatz. Von WOLF SENFF

Feinde im Datastream

Gesellschaft | Roberto Simanowski: Data Love 2013 stellte der amerikanische Whistleblower und Ex-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden unter Mitwirkung des Journalisten und Anwalts Glenn Greenwald, der US-amerikanischen Dokumentarfilmerin Laura Poitrasi (›Citizenfour‹ jetzt in den deutschen Kinos!) und kritischer Medien der Weltöffentlichkeit klar, dass britische und US-Geheimdienste Mails, SMS, Skype- und Handygespräche im Megastil sammeln, dass technophile Gesellschaften enthemmt ausgespäht werden. Obgleich sich diese ausufernde Schnüffelpraxis als Außenpolitik-, Industrie- und Bankenspionage und angeblicher Kampf gegen den Terrorismus »getarnt« vollzieht, wird everyone everywhere zu everywhat bespäht. Von GISLIND NABAKOWSKI

Die Demokratie wird im Alltag gerettet

Gesellschaft | Jürgen Wiebicke: Zehn Regeln für Demokratie-Retter Das Buch ›Zehn Regeln für Demokratie-Retter‹ von Jürgen Wiebicke ist mit 112 Seiten nicht dick, aber sein Inhalt ist gewichtig. Denn das Buch geht ganz explizit auf die jüngsten politischen Verschiebungen ein und gibt Hinweise, wie man damit umgehen kann. Es zeigt: Moralische Empörung hilft nicht und führt eher zum Gegenteil, wie der Rechtsruck bei der letzten Bundestagswahl (2017) klar gemacht hat. Von BASTIAN BUCHTALECK

»G«-Dienst zwischen Sehnsucht und Scham

Gesellschaft | Bruno Latour: Jubilieren Jubilieren. Über religiöse Rede heißt Bruno Latours Buch über die Sprachnot angesichts des Heiligen und die Gott- bzw. »G«-Suche des modernen Menschen. JOSEF BORDAT folgt ihm beim Versuch der religiösen Orientierung inmitten von Anfechtung und Zweifel.