»Oh! wie Osten« – Spielen gegen Vorurteile

Spiele | ›Oh! wie Osten – das Gesellschaftsspiel, das vereint‹

Mit ›Oh! wie Osten‹ hat Jule Henschel ein Brettspiel entwickelt, das die deutsch-deutsche Teilung und ihre Folgen spielerisch zum Gesprächsthema macht. Auf einer bundesweiten Spieletour lädt sie Menschen ein, Biografien zu teilen, Vorurteile zu hinterfragen und gemeinsame Zukunftsvisionen zu entwickeln. Von RUDOLF INDERST

Rudolf Thomas Inderst (RTI): Guten Tag Jule Henschel, es freut mich, dass wir uns heute ein wenig austauschen können. Bitte stellen Sie sich unseren Leser:innen kurz vor und schildern Sie gerne, wie Ihr typischer Tag aussieht?
Die Erfinderin des Spiels lächelt in die Kamera und hält einige Spielkarten in die HöheJule Henschel (JH): Hallo, vielen Dank für die Einladung! Ein ganz normaler Tag findet bei mir aktuell viel am Schreibtisch zu Hause statt. Ich bin gerade in den letzten Zügen meines Masterstudiums und schreibe an meiner Masterarbeit. Nebenbei arbeite ich außerdem, auch von zu Hause meistens. Aber: Mir macht das viel Spaß, denn mein Spiel ›Oh! wie Osten – das Gesellschaftsspiel, das vereint‹ ist tatsächlich Bestandteil meiner Masterarbeit. Ich habe das Gesellschaftsspiel letztes Jahr im Rahmen meines Studiums im Public Interest Design entwickelt. Dieses Jahr bin ich mit dem Spiel auf Tour: Im Juni haben wir schon in Rostock, Riesa, Erfurt und in der Pfalz gespielt. Ab September gibt es wieder neue Termine, auf die ich mich sehr freue. Die Erfahrungen, die ich dabei sammle, werte ich in meiner Masterarbeit aus.

Bevor wir über Ihr aktuelles Projekt sprechen, interessieren wir uns natürlich für Ihre Spieler:innen-Biographie? Haben Sie einen Lieblingstitel, was spielen Sie aktuell und wovon sollte man, ganz ketzerisch gesprochen, Ihrer Meinung nach ihre / seine Finger lassen?
Ich mag kurze, unkomplizierte Spiele, die keinen ganzen Abend brauchen, um ein Ende zu finden. Es war Sommerurlaubszeit und ich war wandern und mit Zelt und Fahrrad unterwegs. Für die Ansprüche eines kleinen und leichten Gepäcks hat sich für mich ›Qwixx‹ als ein Favorit herausgestellt: Schnell erklärt und schnell gespielt lassen sich damit Regenpausen oder Zugfahrten optimal überbrücken. Egal, ob man zu zweit oder in einer Gruppe unterwegs ist. Schade ist nur, dass dabei die beschriebenen Zettel anfallen … bei einer Hüttentour muss man die tatsächlich wieder ins Tal tragen. Insofern: Ist das vielleicht mein Spiele-No-Go, auch im Sinne der Umwelt. Immerhin zweiseitig bedruckt würde ich mir die Schreibblöcke in Spielen wünschen.

Wir haben uns auf der re:publica in Berlin kennengelernt, wo ich bereits ein wenig über Ihr Projekt ›Oh! wie Osten – das Gesellschaftsspiel, das vereint‹ erfahren durfte. Um was genau geht es dabei und wie hat sich das Thema in der Findungsphase entwickelt?
›Oh! wie Osten‹ ist ein Gesellschaftsspiel, das die ehemalige deutsch-deutsche Teilung und ihre Auswirkungen zum Gesprächsthema macht. Dabei können Jung und Alt, vor allem aber Ost und West miteinander spielen und in Austausch kommen. Mittels Gesprächs- und Wissensfragen kommt man ins Gespräch: Über die eigene Biografie, Erfahrungen in Schule & Berufsleben und Vorurteile, die mal mehr, mal weniger wahr sind. Ziel des Spiels ist es, gemeinsame Zukunftsvisionen zu entwickeln.
Denn: Wenn wir uns füreinander Zeit nehmen, merken wir schnell, dass uns vieles vereint.

Eine Hand hält eine Spielkarte.Ausschlaggebend für meine spielerische Auseinandersetzung mit dem Thema war mein Umzug von Ost- nach Westdeutschland vor ein paar Jahren. Plötzlich fand ich mich in einer westdeutschen Stadt wieder, die sich überraschend anders anfühlte als Rostock, Erfurt oder Leipzig. Und: Ich merkte schnell, dass viele Menschen in Westdeutschland diese Orte gar nicht kannten oder sogar noch nie in Ostdeutschland waren. Auf einmal war ich wieder mit Vorurteilen konfrontiert und merkte, dass es mir und anderen unbehaglich wurde, wenn es um »den Osten« ging. Ich begann, mich mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen und begab mich auf die Suche nach einem Format, welches Gespräche ermöglichen könnte, ohne dass alle gleich genervt sind. Ein Spiel schien mir dabei die perfekte Lösung: Es schafft einen Gesprächsraum mit festen Regeln, der aber auch Platz für Fragen und Gespräche lässt. Wer spielt, kommt zusammen, erfährt Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Perfekt also! Ich legte los und was dabei herauskam, kann bei der diesjährigen Spieletour ausprobiert werden.

Was haben Sie beim Entwickeln des Spiels über sich selbst oder Ihre Identitäten gelernt?
Dass ich definitiv der Typ für kollaborative Spiele bin! Ich finde es viel schöner, miteinander anstatt gegeneinander zu spielen. Bei diesem Thema ist das ja schon fast eine gesamtgesellschaftliche Botschaft. Es war also schnell klar, dass man bei ›Oh! wie Osten zwar Oh!‹-Punkte verdienen und auch gewinnen kann, aber man eben auch zusammenarbeitet. Mit dem Spiel – und vor allem mit der Spieletour und den Spielesessions, die ich durchführe – habe ich eine Möglichkeit gefunden, den gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Ostdeutschland mitzugestalten. Und das ist einfach total erfüllend. Wir alle tragen viele verschiedene Identitäten in uns. Und dass ich ostdeutsch bin, ist eine meiner Identitäten. Mittlerweile verstecke ich das nicht mehr, sondern mache es bewusst zum Thema. Wer mit blöden Sprüchen um die Ecke kommt, weiß oft einfach noch zu wenig darüber. Und ich bin sehr froh, einen Weg gefunden zu haben, das zu ändern.

Welche Reaktionen oder Aha-Momente haben Sie erlebt, wenn Menschen das Spiel gespielt haben?
Die sogenannten Kopfsache-Fragen im Spiel sorgen immer wieder für Aha-Momente. Auf allen Seiten! Dabei werden gängige Klischees auf den Prüfstand gestellt. Einige stimmen, viele aber auch einfach nicht. Dabei war mir wichtig, dass niemand vorgeführt wird, denn Vorurteile sind gesellschaftlich und strukturell bedingte Annahmen. Lernen wir Fakten und überprüfen diese Aussagen, werden wir sie wahrscheinlich nicht noch mal falsch wiederholen. Und: Immer wieder sind Spieler*innen begeistert, wie schnell und unkompliziert man einander kennenlernen kann und teils sehr persönliche Geschichten teilen mag. Dass sich alle beim Spielen wohl und sicher fühlen, liegt mir besonders am Herzen.

Ein junger Man und eine ältere Frau sitzen an einem Tisch, auf dem Spielkarten und Steine ausliegen. Sie unterhalten sich angeregt.

Wenn Sie sich den gesellschaftlichen Diskurs über »den Osten« in zehn Jahren vorstellen: Was soll sich verändert haben, und wie könnte Ihr Projekt dazu beitragen?
Ich würde mir wünschen, dass wir wieder lernen, gelassener miteinander ins Gespräch zu kommen. Klar, es gibt Aussagen, die gar nicht klargehen. Die muss man benennen. Darüber hinaus sollten wir aber lernen, einander wieder mit mehr Interesse zuzuhören und andere Lebensentwürfe und Lebenserfahrungen wertzuschätzen. Erst, wenn Menschen gehört werden, sind sie bereit, auch anderen zuzuhören. Was vielen Menschen in Ostdeutschland nach der Wende widerfahren ist, war teilweise desaströs: Millionen verloren ihre Arbeit, ihre Lebensleistungen wurden entwertet, vertraute Strukturen brachen weg und ganze Regionen gerieten ins Abseits. Diese tiefen Brüche, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch biografisch und kulturell wirkten, als gesellschaftliche Verfehlung zu benennen, ist das Mindeste, was wir heute tun können.

Und darüber hinaus kann ich nur sagen: Zehn Jahre sind genug Zeit, um mindestens zehnmal nach Ostdeutschland zu fahren! Es gibt hier so viele engagierte Menschen, großartige Projekte, entdeckenswerte Orte, eine tolle Natur und viel Freiraum, der woanders so gar nicht mehr zu finden ist. Also, bevor immer über »den Osten« gesprochen wird: Vielleicht erstmal selbst hinfahren – das wäre mein Wunsch.

Meistens gehen festgefahrene Vorurteile dabei sowieso ganz schnell über Bord.

Vielen lieben Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit ›Oh! wie Osten – das Gesellschaftsspiel, das vereint‹!

| RUDOLF THOMAS INDERST
| Alle Abbildungen: © Gesa Niessen

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