Das Zeichen des Sterns

Comic | L. Dauvillier/M. Lizano/G. Salsedo: Das versteckte Kind

Die Vernichtung der europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wird immer wichtiger: Sie liegt nun bereits mehr als zwei Generationen zurück und es gilt zu verhindern, dass sie als ein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit wahrgenommen wird, mit der die Menschen heute nichts mehr zu tun haben. Dem Comic ›Das versteckte Kind‹ gelingt es, das unfassbare Geschehen ganz anschaulich zu machen, findet ANDREAS ALT.

Das versteckte KindDounia ist ein kleines französisches Mädchen wie Tausende andere. Sie ist völlig überrascht, als ihre Lehrerin sie auffordert, sich in die letzte Reihe zu setzen, und sie nicht mehr drannimmt. Dounia kann nicht verstehen, was sie verbrochen haben könnte. Erst später kommt ihr der Verdacht, dass es vielleicht mit dem »Sheriffstern« zu tun hat, den ihre Eltern auf ihre Jacke genäht haben. Diesen Stern entdeckt sie mit schwarzer Farbe auf ein Schaufenster geschmiert wieder; daneben steht: »Juden raus«. Die Franzosen mögen Menschen, die mit dem Stern gekennzeichnet sind, offenbar nicht mehr.

Dounias Vater hat den »Judenstern« zum »Sheriffstern« erklärt, um die Stigmatisierung für sie etwas leichter zu machen. Kurz darauf werden die Eltern von Uniformierten abgeholt. Dounia entgeht, versteckt in einem Schrank, der Deportation. Nachbarn nehmen sie bei sich auf und bringen das Mädchen aufs Land, wo es von einer Bauernfamilie in Pflege genommen wird. Dounia ist hier in Sicherheit. Offen bleibt zunächst, was aus den Eltern geworden ist.

Deutschen ist diese Geschichte aus dem Frankreich des Pétain-Regimes (zwischen 1940 und 1942) wohlbekannt. Bei unseren Nachbarn war die Hilfsbereitschaft gegenüber verfolgten Juden größer als hierzulande, wo nur wenige diesen Mut aufbrachten. Ungewöhnlich an dem Band ist vor allem die konsequente Kindersicht. Während Erwachsene den Nazi-Terror mühsam zu erklären und in ein rationales Weltbild einzuordnen versuchen, sehen ihn Kinder als den Irrsinn, der er letztlich tatsächlich war. Das Autorentrio kann daher völlig darauf verzichten, das Grauen der Internierung und Ermordung von Menschen zu schildern, deren einziger Fehler ihre ethnische oder religiöse Zugehörigkeit ist. Von all dem bekommt Dounia nur die Folgen zu spüren. Selbst die Verhaftung ihrer Eltern erlebt sie nur akustisch aus dem finsteren Schrank heraus mit. Trotzdem eine eindringliche Szene.

Der Zeichenstil von Marc Lizano entspricht der Erzählweise von Loïc Dauvillier: Die Zeichnungen erscheinen gewollt naiv. Die großen Köpfe der Figuren mit plakativem Gesichtsausdruck wirken sehr kindgerecht. Lizano kann aber beliebig detailliert und realistisch werden. Die Nazi-Besatzung tritt allerdings kaum in Erscheinung; sie ist nur als ständige Bedrohung präsent. Ein Übriges tut die sehr effektvolle Farbgebung von Greg Salsedo. Der Comic ist also für Kinder – etwa ab zehn Jahren – geeignet, sollte ihnen aber besser vorgelesen werden, als sie damit allein zu lassen. Für Erwachsene hat er mit seinen erzählerischen und grafischen Nuancierungen einen eigenen Reiz.

Wie sich der Holocaust in Frankreich abgespielt hat, erläutert in einem Nachwort die Vorsitzende der Vereinigung Anonymes Justes et Pérsecutés durant la période Nazie dans les communes de France (AJPN), Hellen Kaufman. ›Das versteckte Kind‹ erhielt – zu Recht – mehrere Preise und wurde in die Liste ›Recommandé par l’Éducation Nationale‹ aufgenommen.

| ANDREAS ALT

Titelangaben
Loïc Dauvillier, Marc Lizano, Greg Salsedo: Das versteckte Kind
Aus dem Französischen von Monja Reichert
Stuttgart: Panini 2014
80 Seiten, farbig, 16,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rum und Ruinen

Nächster Artikel

Zwischen Harlekin und Prophet

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Eine gealterte Justice League

Comic | F.Miller, B.Azzarello (Texte), A.Kubert, K.Janson, E.Risso: Batman: Die Übermenschen Frank Millers und Klaus Jansons ›Batman: Die Rückkehr des Dunklen Ritters‹ von 1986 gilt schon lange als erzählerischer und zeichnerischer Meilenstein des Superheldencomics, der, so Alan Moore, das Dark Age der Superhelden eingeleitet hatte. In der düsteren und politisierten Story schlüpft ein gealterter und reaktionärer Bruce Wayne abermals in die Rolle von Batman, um, zur Empörung der Öffentlichkeit, brutal das Verbrechen zu bekämpfen. Von PHILIP J. DINGELDEY

Perspektivenwechsel

Kinderbuch | Martin Baltscheit & Anne Becker: Selma tauscht Sachen – Opaleben

Die Alten sind stur und miesepetrig, die Jungen rücksichtlos und frech: Generationenübergreifende Begegnungen sind nicht immer einfach. Die Graphic Novel von Baltscheit & Becker verfolgt einen spannenden Ansatz, findet ANDREA WANNER

Entchen schwimmen lassen – auch das ist der Comic Salon

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014: Familientag   Kinder gehören für die meisten Comicverlage nicht mehr zur Zielgruppe. Ihre Produkte wenden sich ausschließlich an Erwachsene. Damit das Medium aber eine Zukunft hat, ist den Organisatoren des Comic Salons wichtig, auch die junge Generation einzubeziehen. Zu diesem Zweck gibt es seit einigen Jahren den Familiensonntag. ANDREAS ALT hat ihn mit seinen beiden Nichten (11 und 9) besucht.

Auf der Reeperbahn, Nachkrieg, halbwüchsig

Comic | Isabel Kreitz: Rohrkrepierer Mit ›Rohrkrepierer‹ adaptierte Isabel Kreitz den gleichnamigen, im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Roman von Konrad Lorenz als Comic – und legt damit ein weiteres Zeugnis ab, wie gut sie es versteht, authentische Eindrücke und lebendige Figuren zu schaffen. Von CHRISTIAN NEUBERT

Sind es Comics oder Bücher?

Comic | Graphic Novels Während im Buchhandel die Umsätze eher sinken, entwickeln sich die Verkäufe im Segment Comics vielversprechend. Trotzdem sind Comics keine Selbstläufer. Die Verlage müssen mit ihren Vertrieben viel Hilfestellung geben, wie ANDREAS ALT auf der Frankfurter Buchmesse erfahren hat.