Einfühlung und Analyse

Kurzprosa | Dieter Wellershoff: Im Dickicht des Lebens

Ein neuer Band mit Erzählungen ist pünktlich zum 90. Geburtstag von Dieter Wellershoff am 3. November erschienen. Gelesen von PETER MOHR

wellershoff»Ohne Lebenserfahrung könnte man gewiss nicht so schreiben, wie ich das tue. Das heißt aber nicht, dass ich in meinen Texten ständig eigene Lebensprobleme ausagiere. Wenn der Autor wissen will, was an den Menschen dran ist, muss er sie in Schwierigkeiten bringen«, beschrieb Dieter Wellershoff einst sein dichterisches Credo. Und so lässt sich ohne waghalsige Interpretationsartistik eine verbindende Motivklammer vom Frühwerk Ein schöner Tag (1966) bis zu seinem letzten Roman Der Himmel ist kein Ort (2009) setzen. Es ging Wellershoff stets um die kleinen Alltags-Katastrophen, um zwischenmenschliche Störfeuer, um winzige Nadelstiche, die ein seelisches Ungleichgewicht auslösen können.

Vor fünfzehn Jahren legte Wellershoff, der am 3. November 1925 in Neuss geboren wurde, mit Der Liebeswunsch ein absolutes Meisterwerk des psychologischen Realismus vor – mit authentischen Dialogen, bestechenden Menschenbildern, alternierenden Erzählperspektiven und einer klaren, zupackend präzisen Sprache. »Vom ersten Einfall bis zum Beginn des Schreibens vergingen ungefähr fünfzehn Jahre. Und dann dauerte es noch einmal eineinhalb Jahre bis das Buch fertig war«, bekannte der Autor, der zuletzt mit dem Hölderlin-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik ausgezeichnet wurde. Sein großes Oeuvre krönte er im 2009 noch einmal mit dem fein inszenierten Roman Der Himmel ist kein Ort, der um den innerlich zerrissenen Pfarrer Henrichsen und den unter schwerem Verdacht geratenen Lehrer Karbe kreist und der (und dies war ein Novum) überaus spannend zu lesen war.

Dieter Wellershoff scheint jedes Wort auf die berühmte »Goldwaage« zu legen, seine Akribie wurde in der Vergangenheit häufig als »theorielastig« und seine Bücher als »ingenieurhafte Prosa« bezeichnet. Dabei leben die auf den ersten Blick handlungsarmen Werke genau von dieser Komposition, von den leisen Zwischentönen in der Kommunikation, von unbedachten Äußerungen, von scheinbar harmlosen Gesten, die atmosphärische Störungen auslösen.

»Ich will herausbekommen, was ich aufgrund meines Lebenswissens über das Leben anderer Menschen sagen kann, und zwar in einem Erkenntnisprozess, bei dem sich Einfühlung und Analyse untrennbar mit Wahrnehmung und Phantasie mischen«, hatte der Autor vor einigen Jahren erklärt. Wellershoff begleitet die Literatur seit über 60 Jahren aus den verschiedensten Perspektiven – als Wissenschaftler (1952 Promotion über Gottfried Benn), Lektor (zwei Jahrzehnte bei Kiepenheuer und Witsch), Essayist und Autor.

Nach der Veröffentlichung der Romane Ein schöner Tag und Die Schattengrenze (1969) bildete sich in Wellershoffs Dunstkreis die »Kölner Schule« des neuen Realismus, der Schriftsteller wie Günter Herburger und die verstorbenen Günter Seuren, Nicolas Born und Rolf-Dieter Brinkmann angehörten.

Die Sirene (1980), Der Sieger nimmt alles (1983) und das Kriegserinnerungsbuch Der Ernstfall (1995) waren weitere herausragende Werke des in der Kölner Neustadt lebenden ungekrönten Königs des psychologischen Realismus.

Pünktlich zu seinem 90. Geburtstag ist eine Sammlung mit ausgewählten Erzählungen erschienen – versehen mit einem Vorwort des Schriftstellerkollegen Peter Henning. Der insgesamt 13 Texte umfassende Band (der älteste »Doppelt belichtetes Seestück« stammt aus dem Jahr 1973) liefert einen durchaus repräsentativen Querschnitt aus Wellershoffs erzählerischem Werk. Überaus glücklich ist die Anordnung der Texte gelungen, denn der Band schließt mit der Novelle »Zikadengeschrei« – einer der gelungensten kürzeren Texte aus der Feder des Jubilars. Die Stadt Köln ehrt Dieter Wellershoff an seinem Geburtstag mit einem Festakt im historischen Rathaus.

| PETER MOHR

Titelangaben:
Dieter Wellershoff: Im Dickicht des Lebens
Ausgewählte Erzählungen
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2015
333 Seiten. 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Erst schalten, dann walten!

Nächster Artikel

Dunkle Zeiten

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Provinz ist, wo ich bin

Kurzprosa | Wolfgang Pollanz: Die Undankbarkeit der Kinder Altersstarrsinnige Verwandte, Nachbarinnen in Christl-von-der-Postmoderne-Dirndln und nach Argentinien ausgewanderte Wurstwarenfabrikanten bevölkern Wolfgang Pollanz´ Erzählungen. Dabei ist Die Undankbarkeit der Kinder eine geradezu lässliche Begleiterscheinung. INGEBORG JAISER genoss bei einem Glas Schilcher die Lektüre.

Verstehen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verstehen

Ob Phantasie der Intelligenz zuzurechnen sei, fragte Farb.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Wie er darauf komme, fragte sie, legte ihr Reisemagazin beiseite, griff zur Teekanne und schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie üblich das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, sie besaßen es auch lindgrün, Tilman hatte es, wie er sagte, aus Beijing mitgebracht, wo er einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen war.

Da sei man sich nicht einig, sagte Tilman.

Man wisse das nicht, sagte Farb.

Ungewollt aktuell

Kurzprosa | J.M.G. Le Clézio: Bretonisches Lied

Nobelpreisträger JMG Le Clézio schreibt in Bretonisches Lied über seine Kindheitserinnerungen an den Krieg. Von PETER MOHR

Kollaps

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kollaps

Haschen nach Wind, sagte Wette, ein Haschen nach Wind.

Farb lachte. Nachdem die Tech-Barone dem Menschen ihre Digitalisierung angedient haben, führen sie nun der Welt vor, was für tolle Kerle sie doch seien, und wirbeln Staub auf.

Es tickt die Zeit, das Jahr dreht sich im Kreise

Menschen | Literaturkalender 2018 Gleich nach den Sommerferien tauchen sie auf: die ersten Lebkuchen im Supermarkt, in den Buchhandlungen die Kalender für das nächste Jahr. Zu den lukullischen Vorboten folgen literarische. Wer sich noch nicht durch seinen Lieblingskalender geblättert hat, findet hier zur Einstimmung einen Ausblick auf alte Bekannte und neue Entdeckungen. Von INGEBORG JAISER