Jugendbuch | Huntley Fitzpatrick: Mein Sommer nebenan
Selbst bestimmen ist eine wichtige Forderung von Teenagern. Aber selbstbestimmtes Handeln hat Folgen und diese sind nicht immer leicht zu tragen. Zuweilen verändert sich dadurch die ganze vertraute Welt auf schmerzliche Weise. Eben diese Erfahrung läßt Huntley Fitzpatrick in Mein Sommer nebenan die siebzehnjährige Samantha machen, die trotz strengem Verbot ihrer Mutter dem heimlichen Blick in den Nachbarsgarten Taten folgen lässt. Von MAGALI HEISSLER
Die Geschichte von Samantha Reed, Tochter einer wohlhabenden, ehrgeizigen und politisch engagierten Mutter, und Jase Garrett, Sohn einer Familie mit acht Kindern und knappen Geldmitteln scheint nur eine weitere Version der Geschichte von Romeo und Julia sein, zeitgenössisch gewendet mit einem knapp erreichten, aber auf jeden Fall rosaroten Ende. Als wunderbare Sommer-Liebesgeschichte wird das Buch auch beworben. Das ist schade, denn dieser Jugendroman ist weit mehr als etwas, mit dem man in der Sommersonne entspannt träumen kann. Fitzpatrick entwirft in ihrem Erstling ein Panorama des modernen Familienlebens, seiner Anforderungen, seiner Probleme und seines Nutzens.
Zwei Familien stehen im Mittelpunkt, die von Samanthas Mutter, Claire Reed, alleinerziehend, zwei Töchter, wohlhabend, und die Nachbarsfamilie, die groß, quirlig und unübersehbar alles aufweist, was eine klassische Familie ausmacht. Zunächst ist es vor allem das Verbot ihrer Mutter, mit den schrecklichen Nachbarn Umgang zu haben, das Samanthas Neugier weckt. Sie beobachtet die Nachbarn heimlich. Der laute, ein wenig verrückte, aber immer liebevolle Umgang zieht sie an, vor allem, weil er ihr bewusst macht, was im perfekt organisierten Leben mit ihrer Mutter alles fehlt. Samantha ist ein braves Mädchen, gut in der Schule, gut aussehend, sportlich, gewöhnt, alles zu tun, was ihre Mutter sagt, und das auch für richtig zu halten. Eigeninitiative hat sie kaum. Das ist zu wenig für eine Siebzehnjährige. Als der gleichaltrige Nachbarsjunge von sich aus Bekanntschaft mit ihr schließt, ist Samantha hingerissen. Sie verliebt sich gleichermaßen in seine quirlige Familie wie in ihn.
Wildes, liebenswertes Familienleben
Fitzpatricks Stärke liegt nicht nur in der Figurenzeichnung, sondern auch im Lebendigmachen von Beziehungen. Dass sie Familien liebt, ist deutlich, je größer, desto mehr Begeisterung legt sie in ihre Schilderung. Bei den Garretts möchte man als Leserin auf der Stelle einziehen. Trotzdem ist diese Familie nicht ohne Probleme, das Geld ist knapp, die Geschwister streiten sich und leben eigene Verrücktheiten aus.
Bei den Reeds geht es ganz anders zu, alles unterliegt genauen Regeln, die eingehalten werden müssen. Das Image ist das wichtigste, Claire Reed ist republikanische Senatorin. Ihre Beziehungen zu anderen sind kühl und austerngrau, wie die sorgfältig durchdachte Inneneinrichtung ihres wunderbaren Hauses. Ihr Leben ist ein einziger Wahlkampf. Samantha merkt lange nicht, dass sie dieses Leben satt hat. Die leichte Rebellion ihrer etwas älteren Schwester macht sie ein wenig unruhig, aber die Verlockungen des wohlsituierten Daseins, das ihre Mutter ihr bietet, sind zu groß. Erst der Kontakt zu Jase öffnet ihr die Augen für ihre Abhängigkeiten.
Zunächst versucht sie, einen Mittelweg einzuschlagen, halbherzig. Sie besucht die Garretts, springt als Babysitterin ein, verbringt viel Zeit mit Jase und verschweigt das meiste ihrer Mutter. Das wilde, liebenswerte Familienleben bliebt jenseits des Zauns, ein kleines Abenteuer eines noch verträumten Mädchens. Diese Charakterisierung ist rundum gelungen.
Was ist Verantwortung?
Ihr langsames Aufwachen illustriert die Autorin einfallsreich mit sich verändernden Blickwinkeln auf Samanthas Freundinnenkreis. Die beste Freundin hält einem kritischen Blick nicht stand, ihr Bruder, Tim, der dabei ist, in Alkohol und Drogen abzurutschen, und dem Samantha lieber aus dem Weg geht, dagegen schon. Jase wirkt unterstützend auch auf Tim, ein Hinweis Fitzpatricks, dass ‚Familie’ nicht nur Blutsverwandtschaft bedeutet, sondern fähig macht zu Verantwortung auch außerhalb dieses Kreises. Überraschend und positiv zu vermerken ist, dass Themen wie der Umgang der Geschlechter, Sex und eben Drogen immer wieder diskutiert werden. Fitzpatricks Sprache ist zeitgemäß, die Dialoge sind ein bisschen frech, deutlich, aber nicht nur von Teenagerslang bestimmt, der in Büchern oft künstlich und aufgesetzt klingt.
Die Autorin lässt sich viel Zeit für ihre Geschichte, ein bißchen weniger Text hätte es auch getan, immerhin hat das Buch gute 500 Seiten. Die krisenhafte Situation kommt spät, aber mit Macht. Mit einem Mal steht Samantha vor einer schrecklichen Entscheidung. Das Ende ist eher den Rechtsverhältnissen der USA geschuldet, die es möglich machen, dass Fitzpatricks Credo, dass die Familie das Wesentliche ist, als krönende Erkenntnis hervorgehoben wird. Was bleibt, ist auf jeden Fall der wichtige Gedanke, dass sich die Frage, was richtig ist und was falsch, nicht nur Teenager, sondern auch Erwachsene immer wieder stellen müssen.
Eine neue Stimme unter den Autorinnen von Jugendromanen, auf weitere Bücher von ihr sollte man achten.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben:
Huntley Fitzpatrick: Mein Sommer nebenan (2012 My Life Next Door)
Aus dem Amerikanischen übers. von Anja Galić
München: cbj 2013
505 Seiten. 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren