Roman | Nina Sahm: Das letzte Polaroid
Übermütige Momentaufnahmen und eine innige Mädchenfreundschaft, trügerische Erinnerungen und die Vergänglichkeit aller Dinge sind die verbindenden Themen von Nina Sahms leichtfüßigem Erstlingsroman. Was passiert, wenn das Schicksal zuschlägt und als Andenken nur noch Das letzte Polaroid übrig bleibt? Von INGEBORG JAISER
Zuerst ein Update für die Spätgeborenen und Digital Natives: Mit Polaroid bezeichnet man sowohl eine analoge Sofortbildkamera als auch einen speziellen Film, der sich innerhalb von Sekunden nach dem Schnappschuss selbst entwickelt. Mit einem satten Surren schiebt sich das quadratische Sofortbild automatisch aus dem Schlitz der Kamera.
Ein Riesenspaß – bis 2008 die Herstellerfirma die Produktion einstellt. Wer heute noch über rar gewordenes Filmmaterial verfügt, kann sich mehr als glücklich schätzen. Und wird jede Momentaufnahme als einzigartigen Schatz verstehen, als nicht reproduzierbares Unikat.
Unwiederbringlicher Schnappschuss
Vor diesem nostalgischen Hintergrund ist der doppeldeutig zu verstehende Titel von Nina Sahms Debütroman Das letzte Polaroid zu lesen. Irgendwann um den Jahrtausendwechsel herum lernen sich zwei pubertierende 14-jährige Mädchen im Urlaub am Balaton kennen. Da trifft die schmalbrüstige, schüchterne Anna aus dem Münchner Villenviertel Grünwald (Mutter: Architektin / Vater: Anästhesist) auf die freche, wilde Kinga aus der Budapester Altstadt.
Während Anna behütet, aber ohne emotionale Wärme zwischen keimfreier Umgebung, vitaminreicher Ernährung und bildungsbürgerlichen Ambitionen aufwächst, ist in Kingas ungarischer Familie eher Warmherzigkeit, Genuss und Laissez-Faire angesagt. Während man hier die Abende mit öden Brettspielen und Fachliteratur zubringt, schießt dort Vater Csaba lustige Polaroidfotos zu Mutter Evàs deftigen Speisen.
Liebeskugeln und Reizwäsche
Kinga trägt knappe Tangas, trinkt Alkohol und macht mit Jungs rum. Doch die kurze Zeit des Urlaubs reicht, um Anna anzufixen. Die beiden Mädchen schließen Freundschaft für immer und beginnen einen innigen Briefverkehr, einen ungewöhnlichen Ost-West-Dialog. Die sexuell aktive Kinga wechselt ihre Freunde ungefähr im selben Rhythmus wie Anna ihre Interdentalbürstchen.
Schreibt über Liebeskugeln, Anmachtechniken und Reizwäsche – während Anna höchstens von ihrer anspruchs- und ereignislosen Bäckerlehre berichten kann. Fast allen Briefen Kingas liegen Schnappschüsse bei. Kurz nach dem Balaton-Urlaub hat Vater Csaba seine Polaroidkamera SX-70 an die Tochter vermacht. Und die knipst mit den letzten Restbeständen an Filmen unbeirrt weiter.
Als Kinga nach einem schweren Autounfall – an dem ihr Freund Tibor nicht ganz unschuldig ist – ins Koma fällt, nimmt Anna ihren Jahresurlaub und reist spontan nach Budapest. Bezieht das ehemalige Kinderzimmer, lernt Ungarisch und taucht genüsslich in das warmherzige Ambiente ihrer Gasteltern Evà und Csaba ein. Doch trotz mehrmaliger Anläufe schafft sie es nicht, an Kingas Krankenbett auszuharren. Eher schlüpft sie probeweise in das Leben der ehemals so bewunderten Freundin, benutzt deren Kamera, schläft mit deren Freund Tibor. Doch am Tag, als sie Das letzte Polaroid verknipst, tritt eine überraschende Wende ein.
Abgelaufene Filme
Nina Sahm hat ihren Debütroman leichtfüßig und unprätentiös inszeniert – weitgehend vor der Kulisse der Stadt Budapest in Zeiten des Aufruhrs gegen die Orbán-Regierung. Dabei kommen der Autorin die eigene Studienzeit in Ungarn und die nachfolgende Tätigkeit als Dramaturgin zugute. Wohl auch ihre Einsicht in die Vergänglichkeit des Seins. Auf Annas letztem Schnappschuss sind fast nur noch braune Flecken zu sehen. Die Entwicklerpaste ist eingetrocknet, die Chemie funktioniert nicht mehr. Die Zeit der Polaroids ist endgültig abgelaufen.
| INGEBORG JAISER
Titelangaben:
Nina Sahm: Das letzte Polaroid
Berlin: Blumenbar im Aufbau-Verlag 2014
239 Seiten. 17,99 Euro