/

Was vom Bade übrig blieb

Comic | Pierre Oscar Lévy/Frederik Peeters: Sandburg

Die Zeit rennt davon, der Raum wird klein: Sandburg seziert das Miteinander unterschiedlicher Menschen in einer mysteriösen Extremsituation. Von CHRISTIAN NEUBERT
Sandburg

Einer Kamerafahrt gleich, Bild für Bild, wird der Blick auf eine Bucht gelenkt. Man sieht einen Mann, scheinbar arabische Herkunft, und man sieht, wie er eine Frau ansieht. Jung und hübsch ist sie. Man sieht, wie er sie verstohlen beim Umziehen und beim Schwimmen beobachtet. Dann sieht man die junge Dame regungslos im Wasser treiben. In dieses Szenario reisen zwei Familien an. Die eine scheint eine typische Kleinfamilie zu sein, inklusive Hund. Die andere, bestehend aus einem Arzt mit Frau und Kindern, hat auch die Großmutter im Schlepptau.

In beiden Familien ist man gut aufgelegt, man scherzt, jeweils auch über den Tod. Was sie derweil noch nicht wissen: Der Tod ist näher als sie denken. Sie begegnen ihm bald in Form der jungen Frau vom Anfang. Da der Araber, der alleine herum streift, ebenfalls nicht unentdeckt bleibt, sind manche der Anwesenden sich schnell darüber einig, wer für den Tod verantwortlich ist.

In diese Situation geraten auch noch drei weitere Badegäste, darunter ein Krimiautor. Doch bevor sich Sandburg endgültig zu einem Krimi mit sozialdramatischen Einschlag entwickelt, platzen den Kindern sprichwörtlich die Badesachen. Irgendetwas sehr Merkwürdiges geht vor, die Körper der Kinder scheinen in Windeseile zu altern. Und der Schein trügt nicht: Ganz offensichtlich werden innerhalb weniger Minuten aus Grundschulkindern pubertäre Teenager. Und was sich bei den Kindern abzeichnet, lässt sich auch bald an den Erwachsenen erkennen. Es dauert nicht lange, und die rüstige Großmutter stirbt. An Altersschwäche, kann der Arzt konstatieren.

Die Zeit läuft ab

Dem Gedanken, schnell von dem vermeintlich verfluchten Ort zu verschwinden, folgt schnell die Einsicht, dass es wohl kein Entkommen gibt. Eine unsichtbare Kraft verhindert ein Verlassen des von ihr begrenzten Geländes. Auch Telefone wollen nicht mehr funktionieren.

Der Comic spielt mit dieser Was-Wäre-Wenn-Situation, indem er innerhalb der sci-fi-gemäßen Prädestination seines Handlungsortes mit kühlem Blick auf die Interaktionen und die Gedanken seiner Protagonisten schaut. Geschichten dieser Art gibt es einige, ein bekanntes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist Christian Nickels Romanverfilmung Die Wand. Doch während diese ihre existenzialistische Tragweite aus der Isolation seiner einzigen Protagonistin erzielt, geht es hier um das Untereinander, das Miteinander und das Gegeneinander seines Ensembles angesichts des Unbegreiflichen und anscheinend Unaufhaltsamen.

Gute Teamarbeit

Pierre Oscar Lévy, der sich für das Szenario von Sandburg verantwortlich zeigt, ist eigentlich Regisseur und Dokumentarfilmer; der Comic ist sein Autoren-Debüt. Mit diesem Wissen fällt es leicht, ihm zu unterstellen, man würde seinen künstlerischen Background bei der Lektüre bemerken. Leicht von der Hand weisen lässt es sich zwar auch nicht, aber egal: Hauptsache, bei Sandburg funktioniert, was auch einen guten Film zu einem Erlebnis macht. Und das tut der Comic: Sandburg reißt mit.

Die Zeichnungen, die Frederik Peeters Sandburg beisteuert, sind gewohnt souverän umgesetzt. Die auftretenden Figuren atmen den gleichen Realismus und verfügen über die gleiche Expressivität wie jene seiner beiden RG-Bände. Da die Bilder in Schwarz/Weiß belassen wurden, wirken sie innerhalb dieses Vergleichs zwar vorläufiger, unfertiger. Der mysteriösen Genese der Geschichte kommt das jedoch sehr gelegen.

Man hat zwar manchmal das Gefühl, dass die Story etwas zu flott die einzelnen Comic-Seiten durchschreitet. Dann bemerkt man jedoch, dass es ja tatsächlich gerade die Zeit ist, die einem davonrennt – und nach der relativ kurzen Lektüre, die Sandburg bietet, erkennt man, dass Lévy und Peeters alles richtig gemacht haben.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Pierre Oscar Lévy (Text) /Frederik Peeters (Zeichnungen): Sandburg (Chateau de Sable)
Aus dem Französischen von Marion Herbert
Berlin: Reprodukt 2013
102 Seiten. 18 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Generationenkonflikt

Nächster Artikel

Funky, Funky

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.

Sehnsucht nach Kraut

Comic | Sohyun Jung: Vergiss nicht das Salz auszuwaschen Unabhängigkeit und Sehnsucht, saures Kraut und aromatische Heimat sind die Zutaten zu Sohyun Jungs preisgekrönter Graphic Novel. Die eindringliche, dichte Bildwelt des Bandes lädt zur Empathie ein und weckt Erinnerungen an die ganz persönliche kulinarische Sozialisation. SUSAN GAMPER erkennt: Nicht ohne mein Kimchi!

Auf der Reeperbahn, Nachkrieg, halbwüchsig

Comic | Isabel Kreitz: Rohrkrepierer Mit ›Rohrkrepierer‹ adaptierte Isabel Kreitz den gleichnamigen, im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Roman von Konrad Lorenz als Comic – und legt damit ein weiteres Zeugnis ab, wie gut sie es versteht, authentische Eindrücke und lebendige Figuren zu schaffen. Von CHRISTIAN NEUBERT

Vom Suchen und Verlieren des Glücks

Comic | Antonio Altarriba/Joaquim Puigarnau Aubert: Die Kunst zu fliegen Der Autor und Literaturprofessor Antonio Altarriba und der Zeichner Kim sind in der spanischen Comicszene große Namen. In Deutschland hat man noch kaum von ihnen gehört, doch glücklicherweise hat es ihr meisterhafter Comic-Roman ›Die Kunst zu fliegen‹ bei Avant zu einer deutschen Veröffentlichung gebracht. BORIS KUNZ über eine Reise durch fast 100 Jahre spanischer Geschichte.

Witchy Wild West

Comics | M.Mignola, D.Fegredo, R.Corben: Hellboy 11 Im elften Band der ›Hellboy‹-Reihe mit dem Titel ›Der Krumme‹ stellen Mike Mignola und eine ganze Horde Zeichner die Mythen des Westens vor und legen eine Sammlung von Kurzgeschichten oben drauf. PETER KLEMENT ist mit dem roten Dämon in die Berge Virginias gereits und hat die Grenzen der Zivilisation ausgelotet.