/

Große Erwartungen

Jugendbuch | Antonia Michaelis: Nashville oder das Wolfsspiel

Eine neue Stadt erobern, den nächsten Schritt in einem spannenden Studienfach zu machen, Menschen kennenlernen und die Liebe, vielleicht sogar die große, kann es für junge Menschen mit achtzehn, neunzehn Jahren etwas Aufregenderes geben? Mit großen Erwartungen marschieren sie in das Leben. Aber der Weg ist voller Stolpersteine und Fallen und sie zeigen sich früher, als man es gedacht hat. Antonia Michaelis schickt in Nashville oder das Wolfspiel ihre junge Heldin auf einen Weg, der mehr Schrecken birgt, als diese je erwartet hätte. Von MAGALI HEISSLER

wolf
Die knapp neunzehnjährige Svenja kommt von Leipzig nach Tübingen. Sie kommt mit wenig Gepäck in der Hand, mit deutlich mehr aber im Herzen, ihre Eltern haben sich soeben getrennt. Svenja schiebt das weg, schließlich liegt ein neues Leben vor ihr. Die winzige heruntergekommene Behausung in der Altstadt spricht ihren Sinn für Romantik an, Svenja will nicht nur sich beweisen, dass sie ihr Leben meistern kann. In der Wohnung aber findet sie mehr als ein paar alte Möbel. Sie findet ein Kind und das gebärdet sich höchst seltsam. Zunächst verwirrt und irritiert werden Svenja schnell zwei Dinge klar. Zum einen möchte sie sich um das Kind kümmern, zum Zweiten bringt es ein Geheimnis mit, das sie lösen will. Schon bald verbinden sich das Leben Nashvilles, so heißt der kleine Junge, und Svenjas so eng miteinander, dass bald nicht mehr klar ist, was denn nun Svenjas eigenes Leben ist. Je mehr sie sich Nashvilles annimmt, desto tiefer gerät sie in ein Leben jenseits aller Vorstellungen von einem geordneten Dasein.

Dass in dieser Unordnung ein Mörder sein Unwesen treibt, ist nur logisch. Logisch ist, bei genauer Betrachtung der Lage, allerdings auch, dass die Ordnung diesen Mörder geboren hat. Leider sind weder Svenja noch die Unterstützerinnen und Unterstützer, die sie findet, fähig, die Lage genau zu betrachten.

Auf dem Kopf zwischen den Zeilen

In ihrem neuen Roman lässt Michaelis ihre Heldin wörtlich auf dem Kopf stehen und mit ihr bald auch die Leserinnen. Auslöser für den anderen Blick ist kleine Junge, der in Svenjas Leben auftaucht. Wenn man die Dinge umgekehrt betrachtet, sagt er nicht nur einmal, sieht man Dinge, die man sonst nicht sieht. Für Svenja sind das vor allem die Obdachlosen in der Bilderbuch-Stadt Tübingen. Die Begegnung mit ihnen lässt sie alles infrage stellen, was sie bisher kennengelernt hat. Sie versucht, zu verstehen.

Michaelis bleibt beim Erzählen streng in der Perspektive ihrer sehr jungen Hauptfigur. Dementsprechend beschränkt ist der Blick auf die Ereignisse. Svenja hat sehr wenig Lebenserfahrung. Sie sucht Nähe und Vertrauen, dabei kommt es mitunter zu Verwechslungen, etwa bei körperlichen Liebesbeziehungen. Svenja ist großzügig, herzlich, zugleich romantisch-kindlich. Das macht sie blind. Sie sieht und hört, aber sie versteht nicht zwischen den Zeilen zu lesen, zu deuten. Was sie auch nicht recht begreift, ist, dass alle Handlungen Folgen haben und dass man diese Folgen weder vorausberechnen noch beherrschen kann. Sie selbst zieht wenige und viel zu langsam Lehren aus all dem, was sie erlebt.

Michaelis mutet den Leserinnen und Lesern viel zu mit dieser Hauptfigur, gerade beim Thema Sex. Dabei geht die Autorin bis an die äußersten Grenzen. Da sie aber die Frage stellt, was Liebe ausmacht, muss sie das tun. Ohne Konsequenz in diesem Punkt wäre das Unterfangen unehrlich. Zugleich verbleibt doch einiges im Romantischen, etwa die Zeichnung des »freiwilligen« Aussteigers, des jungen Manns »zwischen den Zeilen«.

Elegante Vermischung von Realität und Märchen

Wie gewohnt besticht auch dieser Roman von Michaelis durch die elegante Vermischung von Realität und Märchenhaftem. Nicht nur der Blick der Leserinnen, auch der der Figuren erkennt rasch und oft Märchenhaftes im Geschehen. Kinder scheinen Feengeschöpfe zu sein, Bäume sprechen, ein mörderischer Wolf durchstreift die Stadt. Messerklingen blitzen auf, Zeichen eines entsetzlichen Kampfs ums Überleben, selbst bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Gemüseschneiden; obstbaumbestandene Wiesen werden zu Paradiesen, der Fluss mystisch-heilig bei einer Beerdigungszeremonie. Motive aus der Literatur, nicht nur das auf dem Kopf stehende Kind, das an Dickens’ kleinen Pip aus Great Expectations erinnert, auch Shakespeares blutverschmierte Hände tauchen auf. Medizin und Kunst studieren die jungen Leute, die sich bald um Svenja sammeln, Anatomie und Akt, der sezierende und dann wieder der überhöhte Blick auf die Kreatur Mensch ist ein Grundthema des Romans. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Frage nach dem Ideal, dem Menschen folgen.

Verantwortung, Selbstbestimmung, das fordert Svenja, das fordern auch ihre neuen Freunde. Sie müssen aber erkennen, dass Handeln aus Eigenem auch böse Folgen haben kann, selbst wenn man die besten Absichten hat.

Erbin der Romantik

Michaelis Figuren scheinen seltsam ich-bezogen zu handeln, geradezu skrupellos, wenn man nicht beachtet, dass es ihr darum geht, dass man den rechten Moment zum Handeln oft genug verpasst. Dass Verantwortung ein Wort ist, dessen Auswirkung oft genug das Gegenteil sein kann. Nicht zuletzt deswegen, weil man sich gern an Illusionen labt und übersieht, wie leicht man vom Menschen zum Wolf wird.

Damit ist das Ganze natürlich eine romantische Setzung. Auch wenn es der Duktus niemals ist, ist so mancher Gedanke ein wenig sentimental, etwa der Versuch, ein brav-biederes Städtchen dem blutigen Unwesen eines Mörders entgegenzusetzen oder bestimmte Vorstellungen eines idealen Lebens. Oder auch das wilde Studentenleben. Oder, vor allem, der scheinbar offene Schluss.

Ungeachtet dessen aber liefert Michaelis mit diesem Roman einen weiteren Beleg dafür, dass sie das Erbe der klassischen literarischen Romantik angetreten hat. Das Unbewusste und Unheimliche, das Streben nach Unabhängigkeit, freier Entwicklung, die Vermischung von Realem und Fantastischem, immer vor dem Hintergrund der Veränderung, dem Verschieben von Grenzen, dem Betonen des Schöpferischen, all das findet sich in ihren Büchern in immer reinerer Form.

Beeindruckend.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Antonia Michaelis: Nashville oder das Wolfsspiel
Oetinger: Hamburg 2013
480 Seiten. 17,95 Euro
Jugendroman ab 15

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Pannen, Fehleinschätzungen

Nächster Artikel

Fremd in der Heimat

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Tarot für Anfänger*innen

Jugendbuch | Caroline O’Donoghue: All Our Hidden Gifts – Die Macht der Karten

Maeve ist in einer Krise. In ihrer Klasse kämpft sie um eine bessere Position, will dazugehören, beliebt sein. Dafür hat sie bereits einen hohen Preis bezahlt. Aber nun scheint sie einen Weg gefunden zu haben. Von ANDREA WANNER

Gefühlschaos pur

Jugendbuch | Tamara Bach: Wörter mit L   Manchmal ändern sich Dinge im Leben einfach so von heute auf morgen. Dabei ist doch eigentlich gar nichts Großartiges passiert. Pauline versteht die Welt nicht mehr. Von ANDREA WANNER

Der Blick über den Gartenzaun

Jugendbuch | Huntley Fitzpatrick: Mein Sommer nebenan Selbst bestimmen ist eine wichtige Forderung von Teenagern. Aber selbstbestimmtes Handeln hat Folgen und diese sind nicht immer leicht zu tragen. Zuweilen verändert sich dadurch die ganze vertraute Welt auf schmerzliche Weise. Eben diese Erfahrung läßt Huntley Fitzpatrick in Mein Sommer nebenan die siebzehnjährige Samantha machen, die trotz strengem Verbot ihrer Mutter dem heimlichen Blick in den Nachbarsgarten Taten folgen lässt. Von MAGALI HEISSLER

Durchschlagend

Jugendbuch | Matthew Quick: Schildkrötenwege Werther und Anne in Avonlea, Trotzkopf und Jim Hawkins, Holden Caulfield, Försters Pucki und Bella Swan, den Heldinnen aus Jugendbüchern wird nachgesagt, dass sie durchschlagenden Einfluss nehmen auf die Psyche ihres Publikums. Matthew Quick hat sich dieser Frage angenommen. Von MAGALI HEIẞLER

(Fast) Stressfrei durchs Leben

Jugendbuch | Lucia Zamolo: Und dann noch ...

Die gute Nachricht: Menschen brauchen Stress, um sich an verändernde Situationen und Umweltbedingungen anzupassen. Die weniger gute: zu viel Stress ist nicht gut und kann auch krank machen. Und zwar nicht nur Erwachsene. Von ANDREA WANNER