Menschen | Felix Römer: Kameraden
Nach Sönke Neitzels und Harald Welzers Soldaten ist eine zweite große Studie zur Mentalitätsforschung in Sachen Wehrmacht erschienen: Für Kameraden hat der Historiker Felix Römer die Ab- und Verhörprotokollen aus einem amerikanischen Geheimlager für Kriegsgefangene ausgewertet. Der Zweite Weltkrieg aus deutscher Perspektive im O-Ton – minutiös dokumentiert und glänzend erzählt. Von PIEKE BIERMANN
Ian Fleming, der später James Bond erfinden wird, reist im Juni 1941 als Instrukteur des Nachrichtendienstes der Royal Navy nach Washington, D.C. Kurz darauf bauen die Geheimdienste von US Army und US Navy exakt nach britischem Vorbild ein spezielles geheimes Lager für Wehrmachts- und SS-Gefangene auf: Fort Hunt, Virginia, eine gute halbe Stunde südlich von Washington. Offiziell heißt es nur P.O. Box 1142, und es ist so streng geheim, dass selbst Kriegsverbrechen gegen amerikanische Soldaten, die dort gestanden werden, nie zur Anklage kommen, aus Furcht, es dadurch zu enttarnen.
Die Anlage wurde nach dem Krieg komplett abgerissen und zur Grünfläche umgewidmet. Erst fünfzig Jahre später brach der erste ehemalige Mitarbeiter sein Schweigen. Die Akten waren zwar schon in den 1970er freigegeben worden, lagerten aber unbemerkt im Nationalarchiv in Washington. Erst vor ein paar Jahren entdeckt, wurden sie – wie die parallelen britischen – zur aufregenden neuen Quelle eines Forschungsprojekts an der Uni Mainz unter der Leitung von Sönke Neitzel und Harald Welzer, aus dem schon 2011 deren bahnbrechendes Buch Soldaten hervorging.
Paperwork
Fort Hunt hat etwa 40 Zellen für jeweils zwei bis drei Insassen. Sie sind verwanzt. Alles Gesagte wird in einem anderen Gebäude mitgeschrieben. Die meisten Gefangenen argwöhnen zwar, in einer »Quetsche« gelandet zu sein. Aber weder finden sie je ein Mikrofon, noch hindert sie die Ahnung, ausgequetscht zu werden, an offenen Worten. Auch Alfred Andersch nicht, der hier die kurze Zeit verbrachte, die bis vor kurzem als »Lücke in seiner Biographie« galt. Die Gefangenen bleiben ein, zwei Wochen, werden täglich bis zu dreimal verhört, in manche Zellen werden stool pigeons (Spitzel) eingeschleust, die Ver- und die Abhörinhalte werden sorgfältig abgeglichen.
So entstehen über 102.000 Seiten Akten von 3.300 Gefangenen, das Gros nach der Normandie-Invasion ab Juni 1944. Felix Römer, der 2007 für seine Dissertation über den »Kommissarsbefehl«, also die Verbrechen der Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjetunion, ausgezeichnet wurde, hat sie jetzt ausgewertet. Auch er gehört zum Mainzer Projekt und hat dort 2010 schon jene »Andersch-Lücke« aufgedeckt.
Wehrmacht – Wer ist das?
Die Wehrmacht ist spätestens seit der bahnbrechenden Ausstellung von 1995 wieder ein öffentliches Thema. Dass die Shoah erst durch diesen Krieg möglich und dass dieser Krieg von der Wehrmacht geführt wurde, nicht von der Partei oder der SS, tut heute niemand mehr ernsthaft als »Sowjetpropaganda« ab. Aber wer war eigentlich »die Wehrmacht«? Ein homogener Organismus aus Generälen, die befehlen, also zu verantworten haben, und untergebenen Soldaten, die dank Befehlsnotstand für nichts verantwortlich sind? Oder circa 17 Millionen Männer in ziemlich heterogenen Einheiten und Einsatzgebieten, die sehr wohl ebenso heterogene individuelle Spielräume hatten? Die Enkelgeneration will wissen, was »der Opa« gemacht hat und wie »normale Männer« zu den Gräueln fähig sein – oder werden – konnten. Dass Deutschland zur selben Zeit wieder Soldaten in Kriegsgebiete schickt, trägt sicher untergründig nicht wenig bei zu einer neuen, neugierigen Unruhe. Und die neuere (nicht nur) historische Forschung erschließt dazu nach und nach ein ergiebiges Feld: Mentalitätsgeschichte.
Mentalität im O-Ton
Die Akten aus Fort Hunt sind dafür einzigartig wertvoll, denn es sind Selbstzeugnisse im O-Ton von Soldaten, die fast ausschließlich Mannschaftsgrade haben – nicht nur, wie der Untertitel suggeriert, in der Wehrmacht, sondern auch in der SS. Im Gegensatz zu den Briten, die vor allem die höheren Ränge aushorchen, geht es den US-Militärs – neben der Erkundung relevanter Bomberziele – explizit um die Mentalität des Gegenübers. Wie »tickt« mein Gegenüber im Gefecht und was heißt das für den Kriegsgegner Nazi-Deutschland generell? Deshalb werden ausführliche Fragebögen zur gesamten Biographie entwickelt, mit einem Morale Questionnaire wird minutiös die politische Einstellung abgefragt – zu Hitler, zum Krieg, zur Judenverfolgung –, der militärische Werdegang jedes einzelnen »kleinen Soldaten« wird minutiös nachverfolgt. Alles wird akribisch notiert, standardisiert und alphabetisch sortiert.
Klebstoff Kameradschaft
Felix Römer hat daraus faszinierende narration im doppelten Sinn gemacht. Zum einen verwandelt er die schier unübersehbare Masse formalisierter und frei formulierter Informationen in hochspannende, klare Prosa. Zum anderen entsteht so ein neues Narrativ über den deutschen Teil des Zweiten Weltkriegs. Kameraden belegt en détail, dass die Bereitschaft wie auch die Fähigkeit zu Gräueltaten weder automatisch aus einer vorher eingeimpften ideologischen »Intention« noch aus der gewaltförmigen »Situation« selbst folgen. Beide prägen das Handeln, mal mehr, mal weniger und durchaus heterogen, entscheidend ist der soziale und emotionale »Klebstoff« namens Kameradschaft. Eins jedoch ist bei fast allen der über 3.000 Individuen erschreckend homogen: ihre totale Indolenz gegenüber den Opfern ihrer Taten. Sie reden sie (sich) schlecht, um sich zu entlasten und sich selbst als die eigentlichen Opfer empfinden, später auch inszenieren zu können. Das in allen Variationen zu lesen, ist erschütternd. Davor schützt einen keine »historische Distanz«: Es ist der Kern einer Mentalität, die leider weder nur deutsch noch auf Kriegssituationen beschränkt ist. Sie hat auch in Friedenszeiten inhumane Folgen.
| PIEKE BIERMANN
Eine erste Version der Rezension wurde am 15. November 2012 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht.
Titelangaben
Felix Römer: Kameraden. Die Wehrmacht von innen
München: Piper 2012
544 Seiten. 24,99 Euro