Wolf Senff: Tierwelt
Die Bäume sind seine Welt, er bewohnt diesen Planeten seit zwei Millionen Jahren; es geschieht selten, dass er aufrecht auf den Beinen geht. Er flicht sich Zweige zu Nestern, die er manchmal nur einen halben Tag lang bewohnt, und ernährt sich von den Früchten des Urwalds, sein Lebensraum umfasst mehrere Quadratkilometer. Das erwachsene männliche Tier ist ein Einzelgänger, sein mächtiger, eindringlicher Ruf, heißt es, übertreffe das Brüllen des Löwen, sei aber auch, erzählen die indigenen Dayak, ein qualvolles Seufzen, nachdem die Braut ihn in der Hochzeitsnacht verlassen habe. Was der Mensch halt so erzählt.
Nein, wir verstehen da etwas nicht, wir jonglieren mit Worten, wir können addieren, wir können messen, wir stellen Autos her und Züge. Die Natur kennen wir, indem wir sie beherrschen. So geht’s zu, schön und gut, kein Ausweg nirgends, wir haben uns in eine Falle manövriert.Eine Tagesaktualität wird von der anderen abgelöst, als würden wir von Alzheimer regiert. Jane Goodall? Dian Fossey? Sie bringen eine entlegene Saite zum Klingen. Biruté Galdikas? Was ist mit ihr, sie richtete sich in einer fernen Welt ein, einem Überbleibsel im südlichen Borneo – eine Flucht ist das einzige, was den Blick auf das Leben öffnet, du kannst manchmal nicht weit genug weglaufen von den Abläufen, die dich so dicht und lückenlos umgeben, sie schnüren dich ein.
Bereits die Welt des Eichhörnchens ist eine Dimension, die wir nicht verstehen, wir sind nicht daran interessiert, nein, wir kennen keine Welt außer der unsrigen, das wäre ja noch schöner, und wir leben nun einmal nicht auf den Bäumen, verstehst.
Du kannst Filme abrufen, Youtube, da wird die Biografie eines Königs der Spezies aufbereitet, dramatische Szenen, musikunterlegt, human-interest-getränkt, mit Küchenpsychologie unterfüttert, dass du glaubst einen längst ausgemusterten ›Tatort‹ zu sehen, oder du nimmst einen Moderator in Kauf, der sich massiv selber in Szene setzt zwischen den Bildern – überall erkennt der Mensch dieselbe eigene Welt und reproduziert sie.
Wir wissen nicht, welche Maßstäbe ein Orang-Utan an Menschen anlegt, den einen vertraut er, anderen geht er aus dem Weg, so ist das Leben, wir können das nicht erklären. Ein Weibchen mit ihrem Baby kann aus nichtigem Anlass überaus aggressiv reagieren oder auch nicht, sie weiß was sie tut, erstaunlicherweise, so wenig verstehen wir die Natur.
Zoo, Zirkus, Forschungslabore, mit Orang-Utans wird trotz aller Verbote einträglich gehandelt, zumal ihr Lebensraum auf Sumatra und Borneo durch Rodungen vernichtet zu werden droht, die Brände werden unkontrollierbar.
Es gibt zu wenige Bestrebungen, die Orang-Utans zu schützen und ehemals gefangene Tiere erneut auszuwildern. Von Akmad, einem erfolgreich ausgewilderten Weibchen, wird erzählt, sie kehre gelegentlich zum Lager zurück in Tanjung Puting, dem Nationalpark im südlichen Borneo.
Und die Beziehung scheint sich umzukehren. Der Orang-Utan kehrt nicht domestiziert zum Lager zurück, sondern weil er Vertrauen gefasst hat zu einem der dort lebenden Menschen. Wir wissen nicht, was da geschieht, nein, keinen Schimmer, das ist nicht messbar, oder sagen wir besser, es sei ein Vorgang von einer Tragweite, die der westliche Verstand nicht bewältigt, die uns nicht erreichbar ist, nicht übermittelbar.
Wir müssen diesen Vorgang komplett umstülpen. Der Orang-Utan, dessen Lebensraum die Wipfel der tropischen Wälder sind, oft sumpfiger Wälder, deren Blätterdach bis zu fünfzig Metern Höhe reicht, einzelne Bäume bis sechzig, er verlässt dieses Paradies und erweist seine Wertschätzung einem Menschen, zu dem er Vertrauen gefasst hat. Als ob die Natur ein geordnetes Verhältnis zu ihrem Sorgenkind, dem Menschen, sucht.
Das Leben, das da an den Menschen herantritt, kommt nicht in Glanz und Gloria daher, schreitet auf keinem roten Teppich einher, ist unparfumiert, ohne Verheißungen, kommt nicht im Triumph, nicht auf Pfennigabsätzen, nicht im Rausch, ohne Feuerwerk.
Wir sehen die ruhige Eleganz seiner Bewegung, die bruchlose Identität des Orang-Utan inmitten seiner Baumwelt, die souveräne Gewissheit, mit der er sich in den Wipfeln hält, die eine Hand wie spielerisch um einen Ast geklammert, er bewegt seine scheinbar ungelenke Figur mit paradiesischer Anmut – eine rätselhafte, magische Harmonie zwischen Lebewesen und Welt.
Das Leben in diesen Urwäldern ist eine Mühsal, dort, wo der Orang-Utan seine Heimat hat und sich gemächlich und zwanglos bewegt. Der Mensch versteht das nicht, seine industrialisierte Landwirtschaft ersetzt diesen Lebensraum durch eine Monokultur der Palmöl-Plantagen.
Respekt vor dem Leben ist uns fremd, die magische Harmonie der Natur ist uns unzugänglich.