/

Abstiegskampf

Lite Ratur | Wolf Senff: Abstiegskampf

Krähe, lass mich erzählen. Nein, Fußballfan bin ich nicht. Sei mal still. Dass ich samstagsnachmittags Bundesligakonferenz höre, ist mir zur Gewohnheit geworden; so sehr, dass ich’s an spielfreien Wochenenden vermisse, wie man eben eine vertraute Gewohnheit vermisst. Zwei-, dreimal in den letzten Jahren war ich im Stadion, bei St. Pauli, klar, zum HSV, nein, dazu lieber kein Wort. Von WOLF SENFF

broken-39987_1280Dass ich am Fußball hänge, würd‘ ich nicht sagen, nein. Nur jetzt, an den letzten Spieltagen und weil beide Vereine abstiegsgefährdet, ist das spannend, und ich war, was sonst höchstens vorkommt wenn Borussia Dortmund Champions League spielt, in diesem Lokal mit Flachbildschirmübertragung, vergangenen Sonntag, ab und zu sehe ich dort ein Spiel, doch das ist jetzt nicht die Geschichte, verstehst du, Krähe, letztlich ist Fußball egal.

Ich wüsste gern, Krähe, ob’s bei euch auch Ausfälle gibt, Behinderte, verstehst du, du siehst bei den Menschen häufig Leute mit Gehhilfe, früher war das ein Stock, mein Vater ging einige Jahre lang mit einem Stock, heute ist’s aufwendig designt, wird von Kasse gezahlt und heißt Rollator.

Wie ist das bei euch, Krähe, wenn die Gelenke nicht mehr mitziehen, kennt ihr Arthrose, erzähl! Was macht ihr bei Zerrung oder Muskelriss? Syndesmoseband gibt’s das bei Krähen? Vom Albatros, der sich beim Landen deppert anstellt, hört man, dass er sich sogar die Beine brechen kann, das ist tödlich für ihn, er hat zwei linke Füße und bewegt sich behäbig; der Mensch findet ihn süß, das ist dem Tierchen nicht bekommen. Aber du musst ihm zusehen, wenn er fliegt, Krähe, am Himmel ist er unvergleichlich.

Als ich das Lokal betrat, begann St. Pauli eben die zweite Halbzeit, sie hatten ein Heimspiel, und zehn Minuten später trat der HSV an, da wurde mit harten Bandagen gespielt, der Mainzer Soto renkte sich das Kniegelenk aus, das tut ihm nicht gut. Ich ging in der Halbzeitpause, da lag der HSV in Führung, und wie du siehst, Krähe, mache ich mich nicht von Balltretern abhängig.

Aber meine Güte, welch mutige junge Frau. Sie war kurz nach mir gekommen, ich reichte ihr die Hand, als sie zu einem Tisch wechselte, der nicht so dicht vor dem Flachbildschirm stand, und sie dafür über eine Stufe musste. Ich weiß nicht, was sie hatte, nein, sie war mit einer Gehhilfe gekommen, hatte diese beim Eingang stehen lassen, vielleicht war es auch ein Rollstuhl, das erkannte ich nicht, und hatte sich angestrengt bis zu diesem freien Platz unmittelbar vor dem Flachbildschirm vorgearbeitet. Nein, sie konnte sich bewegen, nur dass sie sich an Tischkanten festhalten musste oder an einer Stuhllehne.

Nein, Krähe, du siehst solche Leute normal nicht, nicht in einem Lokal, nein, keinen einzigen, der Mensch ist jung, gesund und gut aufgelegt. Deshalb fand ich die Frau ja so ungewöhnlich mutig. Nicht spaßig für sie, sich in einem Lokal einen Platz zu suchen, aber man möchte schon mal unter Menschen sein.

Leute wie sie siehst du sonst nur, wenn du beim Altersheim entlang gehst. Oder im Krankenhaus, von wo sie anschließend zur Reha weitergereicht werden. Eine Freundin besucht gelegentlich einen Schlaganfallpatienten, halbseitig gelähmt, der in einem vierten Geschoss wohnt. Nein, ohne Fahrstuhl. Der Wohnungsmarkt in Hamburg ist knapp und teuer. Sonst? Kaum. Im Supermarkt. Oder, Krähe? Du hast doch den Überblick, Vogel, du hockst oben in den Bäumen und fliegst hoch in den Lüften. Findest du keine Erklärung dafür?

Die Frau war Mitte, vielleicht Ende dreißig, zierlich, das volle dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten um den Hinterkopf gelegt, eine anmutige Erscheinung, meine Güte, was für eine schöne Frau. Ein Mann war aufgestanden und hatte sie auf den frei gewordenen Platz hingewiesen, nun wechselte sie und nutzte meine Hand als Halt, dankte mir, unterhielt sich dann kurz mit dem erwähnten Mann, zu reden war für sie kein Problem.

Nein, Krähe, ich weiß nicht, was sie hat, keine Ahnung, der Mensch hat so vieles. Partielle Lähmung nach einem Schlaganfall, gibt es das? Bei einer so jungen Frau? Ihre leicht zittrige Hand kann Symptom für Parkinson sein, hast du davon mal gehört, oder multiple Sklerose in einem frühen Stadium, ich kenne mich da nicht aus, Krähe, multiple Sklerose entfaltet sich in Schüben und begleitet dich dein Leben lang.

Ich nehme mal an, Krähe, dass das alles bei euch nicht vorkommt, Technik Fortschritt Gesundheitsindustrie sind bei euch kein Thema, oder täusche ich mich, nichts für ungut, Vogel, vergiss es, ich hatte nicht vor, dich zu belästigen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Deutsch-polnische Kooperation

Nächster Artikel

Zu den Sternen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Vernunft

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vernunft

Zustände, sagte Crockeye, unbeschreiblich.

Die Moderne, fragte London.

Die sogenannte Moderne breche an, sagte Crockeye: der Windjammer werde vom Dampfschiff abgelöst, das Dampfroß verbinde die Ost- mit der Westküste, auch der Walfang werde schrittweise industrialisiert, der Goldrausch locke den Mammon nach Frisco, das Maschinenwesen trete unverhüllt auf.

Wasser

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wasser

Ernsthaft, sagte Tilman, die Ressourcen des Planeten wollen schonend behandelt werden.

Farb blickte auf.

Sie würden knapp, sagte er.

Im Brandenburgischen tobe ein Konflikt um die Nutzung des Grundwassers, das von einem PKW-Hersteller ausgebeutet werde, die dort lebenden Menschen fürchteten extreme Konsequenzen, Wasser sei ein kostbares Gut.

Zurecht, sagte Farb, die natürlichen Vorräte würden über alle Maßen beansprucht, von schonendem Umgang könne keine Rede sein, das Desaster sei unausweichlich, weltweit, sagte er: in Spanien breite sich Steppe aus, in den USA schrumpften die Stauseen, Australien fahre Jahr für Jahr geringere Ernten ein, die Hälfte der Weltbevölkerung sei heute schlechter mit Wasser versorgt als die Bewohner des antiken Rom.

Krise

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krise

Die Lage sei kompliziert, sagte Wette, die vertrauten Verhältnisse seien in Auflösung begriffen.

Annika warf einen zögerlichen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Farb lachte. Man könne ja heute nicht mehr sicher sein, ob morgen die Sonne aufgehen werde, das habe vielleicht sogar ein Moment der Befreiung.

Er sei da skeptisch, sagte Tilman.

Träume

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Träume

Das Löschwasser sei ihnen ausgegangen, sagte Farb.

Beispiellos, sagte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Grenzwertig sei, sagte Wette, was sich dort abspiele, man müsse das verstehen.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Ein Menetekel, sagte Farb.

Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.