Kurze Momente der Emotionen

Kurzprosa | Juan Gabriel Vásquez: Lieder für die Feuersbrunst

Er ist momentan der erfolgreichste kolumbianische Schriftsteller und eine der wichtigsten jüngeren Stimmen des südamerikanischen Kontinents. Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat ihn hoch gelobt, und seine Romane sind schon in 16 Sprachen übersetzt worden. Die Rede ist vom 47-Jährigen Juan Gabriel Vásquez, der einst an der Sorbonne studiert hat, nun mit seiner Familie wieder in Bogotá lebt und im Sommersemester 2021 der 44. Samuel Fischer-Gastprofessor an der FU Berlin werden soll. Sein neue Erzählband Lieder für eine Feuersbrunst ist erschienen – gelesen von PETER MOHR

Nach fünf Romanen, die auch im deutschen Sprachraum auf ein beachtliches Echo stießen, hat Vásquez nach Die Liebenden von Allerheiligen (2013) nun seinen zweiten Band mit Erzählungen vorgelegt. »Die Erzählung fängt ganz kurze Momente der Emotionen, Erkenntnisse und Enthüllungen ein, die so fragil sind, dass sie uns sofort entwischen würden, wenn wir versuchten, sie in einen Roman zu bringen.« So hat Vásquez einmal versucht, den für ihn besonderen Reiz der Erzählungen zu beschreiben.

In den neun Texten des Bandes ist Vásquez viel näher bei seinen Figuren als in den Romanen, er evoziert eine geradezu intime Atmosphäre. Etwas aus dem Rahmen fällt dabei die Titelgeschichte Lieder für die Feuersbrunst, denn sie umspannt den großen Zeitraum von mehr als hundert Jahren. Im Mittelpunkt steht dabei eine geistige Vorreiterin des Feminismus. Der mit 46 Seiten Umfang längste Text des Bandes liefert eine Mischung aus Essay und historischem Roman(fragment).

Wie ein roter Faden zieht sich die Omnipräsenz der Gewalt durch diesen Band. In Vásquez‘ Heimatland Kolumbien gehört latente und offene Gewalt seit Jahrzehnten zum Alltag. In »Frau am Ufer« kehrt eine Fotografin zurück auf eine Hacienda. Im Rückblick erschließt sich wie bei einem Puzzle (aus vielen kleinen Handlungsteilchen), wie Gewalt und sexuelle Übergriffe entstanden und was sie (möglicherweise) ausgelöst hat. Mit Hilfe einer Lüge werden die (falschen) Gefühle eines Mannes gegenüber einer verunglückten Frau entlarvt.

Stilistisch anspruchsvoll präsentiert sich die Erzählung »Die Frösche«. Hier springt Vásquez innerhalb eines Dialogs auf unterschiedlichen Zeitebenen hin und her. In »Flughafen« bedient sich der Autor einer Petitesse aus der eigenen Vita. Der Text basiert auf einer kurzen Begegnung mit Skandal-Regisseur Roman Polanski Ende der 1990er Jahre in Paris.

Juan Gabriel Vásquez hat uns auf facettenreiche Art und Weise in diesem Band mit Einzelschicksalen im Kontext des gewaltsamen Alltags in Kolumbien konfrontiert. Ganz nah, präzise beobachtet, unter die Haut gehend und mit einer gehörigen Portion Empathie in Szene gesetzt.

»Meine Generation hat gelernt, mit ihm (Anmerkung: gemeint ist der blutige Drogenkrieg) zu leben, aber er hat in uns gewisse Narben hinterlassen.« Von eben diesen schrecklichen Narben handeln Vásquez‘ Erzählungen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Juan Gabriel Vásquez: Lieder für die Feuersbrunst
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Frankfurt/M.: Schöffling Verlag 2021
231 Seiten. 22.- Euro
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Mit stolzgeschwellter Brust nennt er seine Gegenwart Neuzeit, sich selbst kühn einen Homo sapiens und nimmt dennoch die vernichtenden Abläufe nicht wahr.

Wie ist das möglich, Gramner?

Der Mensch kann die Augen schließen, rein physisch, die Lider herunterklappen, Augen zu, und allem Anschein nach ist sein Geist ähnlich eingerichtet, seine Wahrnehmung kann hellwach, doch kann auch auf Null geschaltet sein.

Und wovon soll das abhängig sein?

Das ergibt Sinn, oder? Vor einem Anblick, der ihn quält, schließt er unwillkürlich die Augen, und auch seine Wahrnehmung sperrt sich gegen bestimmte Dinge, er tabuisiert sie.

Er will etwas nicht wahrhaben?

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Er denke darüber nach, sagte Wette, wie sinnvoll es sei, hinter den Ereignissen dämonische Kräfte zu sehen.

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Doch sei das nicht jedem bekannt.
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