Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.
Tilman beugte sich vor.
Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.
Tilman schenkte Tee nach.
Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.
Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.
Und? Was fehlt?, fragte er.
Sie vermisse den Gedenktag für die Opfer der Moderne, sagte sie, die Moderne habe sich seit nunmehr einigen Jahrhunderten ihren Weg gebahnt, unbeirrbar Schritt für Schritt, welch mühsame Angelegenheit, von frühen englischen Baumwoll-Manufakturen zu den schlesischen Weberaufständen, und sie sei bis in unsere Tage keinen Schritt vom Weg abgewichen, nicht einen, nein, keinesfalls, sondern stets voran, voran, lauthals voran unter Marschmusik und der Parole von Fortschritt und Wachstum.
So präsentiert sich die Moderne, ohne Gnade, sagte Tilman, ohne Erbarmen, nur voran, voran bis in alle Ewigkeit, und verspricht sich hohen Gewinn.
Wie langweilig, fügte er hinzu, stand auf und ging in die Küche, Tee aufzugießen, Yin Zhen.
Dir fehlt der Gedenktag für die schlesischen Weber, sagte er, während er die Kanne zurück auf das Stövchen stellte, und nahm einen Keks.
Zum Beispiel, sagte sie.
Was würde das ändern?
Es stimmt einen neuen Ton an, Tilman, einen Hinweis auf die destruktiven Seiten von Fortschritt und Wachstum, auf die unerwünschten Nebenwirkungen, die Kollateralschäden.
Ist doch alles bekannt.
Aber nicht in unserem Alltag verankert, Tilman, nicht kulturell verwurzelt, und deshalb tut ein Gedenktag not, es gibt zahllose unerfreuliche Hinterlassenschaften von Fortschritt und Wachstum, sie werden gern vergessen oder auch nur heruntergespielt, nimm die Verkehrstoten, im öffentlichen Bewußtsein werden sie beiläufig wahrgenommen, die Medien verzeichnen zwar von 2019 einen zahlenmäßigen Rückgang um zehn Prozent auf 2.724 Todesfälle im Jahr 2020, und diese Anzahl sei nun einmal so und wird nicht als ein grundsätzliches Problem eingestuft, also kurzerhand ab damit in die Schublade Unlösbar.
Eine, wie du sie nennst, feministische Kultur des Gedenkens würde die Gewichte verlagern?
Es gäbe viele Beispiele, auch das Gedenken an Hiroshima geht jeden an und würde aufgewertet.
Tilman nickte und nahm einen Keks.
Aktuell wäre die Katastrophe von Ahrweiler Anlaß für einen nationalen Gedenktag?
Das trifft, Tilman, vielleicht sobald man hinreichend Abstand gewonnen hat, und würde die Ursachen präzise nennen oder verschiedene Gründe in die Waagschale legen, so daß man weiter daran arbeiten könnte, Ahrweiler gehört in die Rubrik Klimadesaster, und als Gedenktag wäre es unumstößlich im öffentlichen Bewußtsein verankert.
Mahnung und Erinnerung.
Alljährliche Reden und eine ständige Aufforderung, über die Richtung nachzudenken, die der Umgang mit der Natur nehmen soll, jede technologische Innovation gehört auf den Prüfstand, Tilman, der Raubbau muß ein Ende haben, das Artensterben muß innehalten, der Mensch sich freikämpfen von der Fesselung durch Fortschritt und Wachstum.
Das wäre der Auftrag einer feministischen Gedenkkultur?
Anne nickte und lächelte.