Schon zu seinen Lebzeiten wurde Michelangelo Buonarotti zur Legende und von seinen zahlreichen Verehrern »Il Divino« genannt: der Göttliche. DIETER KALTWASSER hat Horst Bredekamps monumentales Buch über Leben und Werk des einzigartigen Künstlers gelesen.
Ihm wurde ein geradezu ikonischer Status zugesprochen. Er war Bildhauer, Maler, Baumeister und Dichter; der berühmteste Künstler der italienischen Renaissance. Auch sein Nachruhm zeigt Züge einer Apotheose, die zugleich mit einem wachsenden historischen Interesse einherging, schreibt der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Horst Bredekamp in seinem neuen Buch über den Künstler, das über 800 Seiten inkl. ca. 900 Abbildungen mit subtilen Werkanalysen und -deutungen umfasst.
»Die Italienreise wurde seit der Renaissance als Besuch in ein irdisches Paradies verstanden«, so der Autor. Wer nicht lange genug in Italien gewesen sei, habe »sich selbst um die Möglichkeit gebracht, seine Talente voll zu entfalten«. Er blieb der deutschen Enge verhaftet, wie es Dürer Im Urteil Goethes ergangen war: »Hätte doch das Glück Albrecht Dürern tiefer nach Italien geführt.« Der Dichter war von den Fresken der Sixtinischen Kapelle überwältigt und in seinem nach Weimar gesandten Bericht heißt es: »Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag.«
Michelangelos Weg zum Ruhm war kurz, heißt es zu Beginn des neuen Buches: »Mit 24 Jahren wurde aus einem beachteten Talent ein gefeiertes Vorbild.« Sein erster Biograph und Zeitgenosse Giorgio Vasari, der »Inspirator der Vergöttlichung Michelangelos«, sah diesen Wendepunkt in der Fertigstellung seines ersten großen Kunstwerkes, der »Römischen Pieta«. Um die Signatur gibt es eine Legende von Vasari, die vermutlich erfunden ist, schreibt Bredekamp: »In jedem Fall hatte dieser [Michelangelo] eine solche Selbstbekundung nur einmal nötig, weil seine künstlerische Handschrift nun unverwechselbar geworden war; keine seiner weiteren Skulpturen und auch keine seiner Malereien ist signiert.«
Der Autor intendiert mit seinem monumentalen Werk über Michelangelo keineswegs, dass dem Leser »ein abgeschlossenes Wissen aufbereitet, sondern vielmehr ein offenes Angebot gemacht wird, den Werkkreis Michelangelos neu zu durchdenken«. Und Bredekamp fügt hinzu: »Dem Unbehagen über den Umfang, der angesichts der medialen Zeiträuberei der Gegenwart als eine Zumutung erscheinen mag, hofft das Buch dadurch zu begegnen, dass die einzelnen Kapitel auch für sich zu lesen sind.« Der Verfasser hat ein spannendes, luzides und überaus detailreiches Künstlerporträt geschrieben, das als die Summe seiner lebenslangen Forschungen über Leben und Werk Michelangelos gelten kann und durch seine besondere Aufmerksamkeit für die – auch bislang übersehenen – Details besticht. Er gibt in seinem Buch den Blick frei auf einen Künstler, der sich Eindeutigkeiten entzieht und zum Perspektivenwechsel auffordert. Bredekamp bezeichnet die hohe Empfindsamkeit von Michelangelo als panempathisch: Der Künstler hatte die solitäre Befähigung, »jede eindeutige Bedeutungszuschreibung zu vermeiden«. Die Panempathie könne »niemals bei nur einer Sicht und nur einem Standpunkt verharren: sie ist anti-kristallisch«. Dieses Prinzip durchziehe sein Werk »von seinen ersten zeichnerischen Versuchen bis hin zur Vollendung der ›Pieta Rondanini‹«.
Bredekamps Beschäftigung mit Michelangelo, erfährt der Leser, geht bis auf die Jahre um 1970 zurück. Das Buch wurde »mit Blick auf alle Kunstgattungen wie auch sämtliche Schaffensphasen Michelangelos als Geschichte der Werkformen und weniger des Lebens verfasst«. Es entstand aus einer jeweils über zwei Semester laufenden Vorlesung, die Bredekamp seit den 80igern zweimal an der Universität Hamburg und dreimal an der Humboldt-Universität zu Berlin, zuletzt 2019/20 hielt: »Der Rhythmus von jeweils sieben Jahren Distanz entsprang dem Wunsch, jede Studentengeneration wenigstens einmal mit dem Werk Michelangelos in Berührung zu bringen.«
Michelangelo wurde alt; 1475 geboren, starb er 1564 mit 89 Jahren. Seine ersten Werke hat er bereits mit 14 Jahren geschaffen. Und er hat bis wenige Tage vor seinem Tod kontinuierlich gearbeitet. Der Autor unterteilt, den wechselnden Wohnorten des Künstlers entsprechend, Leben und Wirken in vier große Abschnitte.
Der erste beginnt mit der im April 1488 begonnenen Lehre bei dem Florentiner Maler Domenico Ghirlandaio. Bereits 1489 trat Michelangelo in die Bildhauerschule von Lorenzo de’ Medici ein. Er habe die Jahre im Garten des Medici-Palastes in produktiver, aber auch, so Bredekamp, »komplizierter Auseinandersetzung mit anderen angehenden Künstlern verbracht«. In einem Wutanfall ob der Bevorzugung Michelangelos hatte sein »Konkurrent« Torrigiano ihm mit einem Faustschlag die Nase gebrochen; er blieb zeitlebens davon gezeichnet.
Während der Vertreibung der Medici floh Michelangelo 1494 nach Rom, wo er nach dem »Bacchus« mit der »Pieta« von St. Peter »den Status des bedeutendsten Künstlers der Nachantike gewann«, heißt es bei Bredekamp. Im Jahre 1501 kehrte er nach Florenz zurück.
In der zweiten Phase, von 1501 bis 1516, lebte und arbeitete er in Florenz, Bologna und Rom. Seine bedeutenden Werke in dieser Zeit waren, so Bredekamp, »der Florentiner ›David‹, die Bologneser ›Bronzestatue von Julius II‹, die im Sommer 1512 abgeschlossene Ausmalung der Decke in der Sixtinischen Kapelle« – darunter die »Erschaffung Adams«, das wohl berühmteste Gemälde Michelangelos – und »Planungsstufen für das Grabmal Julius II., zu denen der ›Moses‹ und die ›Louvre Gefangenen‹ gehörten«.
Der dritte Abschnitt umfasst die in Florenz verbrachten Jahre zwischen 1516 und 1534, »geprägt gleichermaßen durch schwere Niederlagen und beispiellose Triumphe«. Herausragende Werke in dieser Zeit sind die Architektur und die Skulpturen der neuen Sakristei sowie die Biblioteca Laurenziana, doch auch, so der Autor, »die nicht ausgeführten Werke wie die Fassade von S. Lorenzo haben Geschichte geschrieben«. Als der tiefste Einschnitt in Michelangelos Leben kann die Revolte gegen die Medici angesehen werden, »bei der Michelangelo ab 1529 in leitender Position bis zur Kapitulation im Sommer 1530 mitwirkte«.
Eine »dichte Charakterisierung«, betont Bredekamp, sei in dieser Zeit dem Maler Fra Bartolomeo mit »einer Porträtskizze gelungen, die alle Merkmale seiner Physiognomie aufweist und allein schon mit der deformierten Nase ein unverkennbares Bildnis des Michelangelo darstellt«. Die unvollendete Zeichnung ist vermutlich 1517 in Florenz entstanden, im letzten Lebensjahr des Dominikaners und Savonarola-Anhängers. In ihrer Mischung aus »Ernst, Wildheit, Disziplin und Freiheit« ist für den Autor »die Zeichnung des Fra Bartolomeo das wohl sprechendste Bildnis jenes Michelangelo, dem im vorliegenden Buch gerecht zu werden versucht wurde«.
In der vierten Phase von 1534 bis 1564 blieb Michelangelo in Rom. In den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens »entstanden das ›Jüngste Gericht‹, das Julius Grabmal, die Fresken der paolinischen Kapelle, die Konzeption des Kapitols, der Neubau des Petersdoms, die Porta Pia und weitere Bauten sowie die Skulpturen der ›Florentiner Pietà‹ und der ›Pietà Rondanini‹«.
In dieser Zeit verlor Michelangelo zahlreiche ihm nahestehende Personen, deren Tod ihn tief erschütterte. Ergreifend sei, schreibt Bredekamp, seine Totenklage für den im Dezember 1555 gestorbenen Mitarbeiter Urbino, der ihm »26 Jahre lang ein Organisator und Hausverwalter gewesen war und ihn, wie er Vasari in einem Brief berichtete, gelehrt hatte, das Sterben zu lernen«. Michelangelo starb am 18. Februar 1564 in Rom. Der Leichnam wurde nach Florenz überführt; Michelangelo hatte mit den Mönchen von S. Groce in Florenz seit Langem abgemacht, dort begraben zu werden.
Am Ende seines Buches widmet sich der Autor noch einmal dem Unabschließbaren von Michelangelos Werk. Durchgehend habe sich die Zeitform jener Signatur bewahrheitet, die der Künstler als »noch weitgehend unbekannter Bildhauer in die ›Römische Pietà‹ einmeißelte: ›Michelangelo Buonarotti, Florentiner, machte dies‹. Mit dieser Verwendung des Imperfekts war das abgeschlossene Werk als unvollendet definiert.«
Auch Johann Wolfgang von Goethe war sich des »non finito« wohl bewusst, ebenso wie Michelangelo hat er eine Anzahl unvollendeter Werke hinterlassen; seine literarischen Werke ›Faust‹ und ›Wilhelm Meister‹ empfand er geradezu als »unvollendbar«. In einem Brief an Schadow (1819) nennt Goethe Michelangelo seinen »plastischen Urältervater«.
Bredekamp resümiert: »Das ›FACIEBA(T)‹ der ›Römischen Pietà‹, dessen ›T‹ der junge Künstler unter dem Überhang der Madonna verborgen beließ, war eine komprimierte Formel des unentwegt sich fortsetzenden Wechselspiels zwischen Urheber, Werk und Betrachter. Das Unabgeschlossene, das Unabschließbare und das über die Funktionen und Aufgaben der Formprägungen Hinausgehende, all das ist in jenem fehlenden letzten Buchstaben enthalten.«
In der Essaysammlung ›L’espace littéraire‹ des französischen Philosophen und Literaturtheoretikers Maurice Blanchot findet sich die solitäre Stelle: »Der Traum ist das Wiedererwachen des Unabschließbaren.« Michelangelos Kunstwerke sind Emanationen dieses Traumes.
Titelangaben
Horst Bredekamp: Michelangelo
Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2021
816 Seiten, 89 Euro
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