Kulturbuch | Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde
Schön, dass sich öffentliche Aufmerksamkeit auch anderen Geschöpfen zuwendet, in diesem Falle den Pferden. Und schön, dass die umfangreiche Darstellung Ulrich Raulffs so erfolgreich ist, die ›Geschichte einer Trennung‹ wurde innerhalb nur weniger Monate zum fünften Mal aufgelegt. Von WOLF SENFF
Das passt in eine Zeit, in der das Werk von Mary Midgley überaus zögerlich in den Blick der Öffentlichkeit rückt, wenngleich noch nicht hierzulande; die britische Philosophin beschäftigt sich seit den fünfziger Jahren mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur und den Lebewesen. JM Coetzee stellt sie in seiner Erzählung ›The Lives of Animals‹ an die Seite von Aristoteles und Descartes.
Fortschritt und Technologie
Weinerlichkeit ist aber nicht angesagt. Ulrich Raulff verschafft Zutritt zu einer Welt, die in diesen Dimensionen nicht bekannt war. Das letzte Jahrhundert der Pferde beginne mit der Ablösung des Ochsen als Zugtier in der Landwirtschaft und schließe mit der Ablösung des Pferdes durch Zugmaschinen bzw. es beginne, militärisch definiert, mit Napoleon und schließe mit dem ersten Weltkrieg.
Für Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, zuvor u.a. Feuilletonchef der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹, sind Fortschritt und Technologie keine Themen, die er infrage stellt, und dennoch treten die Grenzen menschlichen Expansionsdrangs in seiner Arbeit zutage.
Der Mensch und seine Pferde
Der Reihe nach. ›Das letzte Jahrhundert der Pferde‹ ist eine detailversessene Arbeit und man spürt das zufriedene Lächeln des Autors, wenn er uns über die umwälzende Wirkung des Steigbügels informiert oder über das unrühmliche Ende, das einst der ›Kluge Hans‹ nahm. Wir werden unterrichtet über die Kultur antiker Amazonen, über den Platz, den das Pferd in unserer eigenen Kultur einnimmt, Ulrich Raulff entwirft ein imponierendes Panorama, beginnend mit den apokalyptischen Reitern bis hin zu Jolly Jumper und zur allegorischen Deutung des Pferdes bei Madame Bovary, Anna Karenina, Effi Briest.
Eine tour d`horizon. Der erste Teil, recht pragmatisch, zeigt das Pferd als einen höchst effektiven Energielieferanten, es liefere beschleunigte Abläufe für Ökonomie und Militär. Raulff beschreibt, welch reichhaltiges Wissen der Mensch über das Pferd sammelte, eine Zeit lang sei gar von einer Wissenschaft die Rede gewesen, er zeigt das Pferd als Attribut von Macht und Herrschaft, er beschreibt es in seinen vielfältigen Bezügen zu Sexualität.
Energiebedarf
Im neunzehnten Jahrhundert habe das Beispiel der leidenden Kreatur und hier unter anderen das Pferd im alltäglichen Bewusstsein ein Empfinden des Mitleids hervorgerufen; das habe sich niedergeschlagen etwa in der Gründung des britischen Tierschutzvereins RSPCA, in einer entsprechenden Haltung seitens Schopenhauers und Nietzsches sowie in der Frage, ob Tieren eine Seele zuzuschreiben sei.
Ein Exkurs, der dann aber abbricht und für Raulffs Grundkonzept unerheblich bleibt; er erweitert im folgenden lediglich seine eigene anthropozentrische Sicht. Die Domestizierung des Pferdes sei ein bedeutender Schritt gewesen insofern, als dadurch das Pferd als ein Lieferant von Energie – Schnelligkeit, Kraft – in Dienste des Menschen gestellt worden sei.
Anthropozentrismus?
Raulff sieht dieses als Basis für seine Prognose, dass die »Geschichte der Energie, der Wandel ihrer Formen und Träger, die Kämpfe um ihre Verteilung« den Kernbereich einer noch zu schreibenden historischen Ökologie bilde – das ist dissonante Zukunftsmusik vor dem Hintergrund, dass die Folgen des menschlichen Umgangs mit Energie bereits heute desaströs sind. Man ist verwundert über die Gewissheit, mit der ein vielfach ausgezeichneter Repräsentant deutscher Kultur den Gang der Geschichte so unbekümmert linear fortschreibt.
Zwar nimmt eine schön zu lesende Interpretation einer Miniatur Kafkas die Unbedingtheit aus der Argumentation Ulrich Raulffs heraus, doch ändert sie inhaltlich nichts, und Raulff tritt nach wie vor als der anthropozentristische Historiker auf, gegen den er sich im Folgenden abgrenzt – dieser Widerspruch ist schwierig unter einen Hut zu bringen. Raulff erinnert auch an Ernst Blochs Hinweis, dass, wer nur den Menschen zum Mittelpunkt habe, anthropologisch zu kurz greife, und tut es doch selbst.
Mensch und Tier
Er lässt die Herrschaft des Menschen über das Pferd, die Tatsache, dass dieser das Pferd als sein erworbenes Eigentum besitzt, nicht in die Überlegungen einfließen. Raulff erwähnt dies wohl als Tatsache, aber er erkennt darin kein Problem, er würdigt stattdessen das Pferd als einen Stützpfeiler der menschlichen Moderne und erwähnt dessen Anteil an der Dynamisierung der Produktion.
Er betont andererseits die Notwendigkeit, den geschlossenen Kosmos der Geschichte für größere Zusammenhänge zu öffnen, u.a. nach dem Vorbild eines Herodot, der seinen Blick nicht exklusiv auf den Menschen gerichtet habe. Es wäre schön, wenn er hier inhaltlich anknüpfen würde. Ulrich Raulff bleibt jedoch argumentativ auf halber Strecke stehen.
Titelangaben
Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung
München: C.H.Beck 2015
461 Seiten, 29,95 Euro
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Mary Midgley: Science and Poetry
London: Routledge 2001
230 Seiten, 16,40 Euro
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