/

Wider die Tyrannei des einzigen Blickpunkts

Kulturbuch | Daniel Tammet: Die Poesie der Primzahlen

Savants, autistische Menschen mit einer sogenannten Inselbegabung, waren lange Zeit nur Objekt der wissenschaftlichen Begierde. Erst in den 80er Jahren erregten sie die amüsiert-gerührte Neugier von Normalbegabten durch Oliver Sacks‘ »Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte« und Barry Levinsons »Rain Man«. Ihre Tauglichkeit als Popfiguren wurde ab 2005 getestet, als die TV-Serie »Numbers« ein mathematisches Superhirn mit den typischen weißen Flecken auf der sozial-emotionalen Landkarte als sexy (männlich) Rätsellöser für die heile Law-and-Order-Welt rekrutierte. Und seit Stieg Larssons Lisbeth Salander scheint Autismus regelrecht zum Glamourfaktor mutiert: genialisch-unheimlich plus sexy (weiblich) gleich Bestseller. Von PIEKE BIERMANN

Daniel Tammet: Die Poesie der PrimzahlenDaniel Tammet ist Savant. Bestsellen tut er auch, weltweit, und nicht nur, weil er 2004 in Oxford fünf Stunden lang die ersten 22.514 Nachkommastellen der Kreiszahl π korrekt aufgezählt hat und selbst komplizierteste Fremdsprachen in Windeseile lernen kann. Sondern weil seine ersten beiden Bücher »Elf ist freundlich und Fünf ist laut« (im Original 2006, deutsch 2007) und »Wolkenspringer« (2009) zum einen der verblüfften Fachwelt den gönnerhaft eingeschränkten Objektblick aufs Eleganteste verstellt und zum anderen einem riesigen Laienpublikum ein allseitig-entfaltetes Subjekt nahegebracht haben. In seinem neuen Buch »Die Poesie der Primzahlen« radikalisiert Tammet die Sache noch einmal.

Er zeigt uns mit herrlich britischer (Selbst-) Ironie, wie armselig unser definitionssüchtiges Denken ist und auf wie vielen, vermeintlich un-autistischen »Inseln« ein Savant heimisch sein kann. Gerade in der Welt der Zahlen, schreibt er, steckt unendlich viel Wissen über unser Innenleben, denn bei mathematischer Imagination geht es um Mögliches, Denkbares, um eine Art ständiges What if? – so wie bei künstlerischer Fiktion auch, zum Beispiel literarischer: »Genau wie Werke der Dichtung können uns mathematische Ideen eine Hilfe dabei sein, unsere Empathie zu erweitern und uns von der Tyrannei eines einzigen, eingeschränkten Blickpunkts zu befreien. Zahlen machen uns, richtig betrachtet, einfach zu besseren Menschen.«

Verzaubert beim Lesen

Was Tammet dafür an Beispielen, Gedanken, Verknüpfungen aufbietet, läuft so quer zu allen Klischees, die wir zum angeblichen Ordnen der Welt gelernt haben, dass man sich ständig die Augen reibt und ziemlich oft begeistert kichert. Die Schnittmengen von Zahlen und Sprache, Shakespeares Null-Erlebnis und Omar Khayyams Kalender, die gemeinsame Schönheit von Primzahlen und den Gedichtformen Sestine und Haiku, die vertrackte isländische Art des Zählens, das ewige, weil unausrechenbare Rätsel namens Mutter, Geld und die fatale unauflösliche Bindung von konkreten Gegenständen an abstrakte Zahlen – alles ist kognitiver Stoff für einen frühkindlich auf synästhetische Wahrnehmung geschalteten Geist, der sich über die Erotik der Zahlen und das Faszinosum der Unendlichkeit schließlich als Erwachsener auch Zugang zu Emotion, Berührung, Körperlichkeit erobert.

Bei Tammet ist alles, was sich wie Ab- und Ausschweifung anhört, immer auch autobiographisch rückgekoppelt. Wie lächerlich die Vorstellung ist, Savants lebten in einer »Phantasiewelt«, wird einem endgültig klar, wenn er – ganz Kind der working-class – politisch Tacheles redet, zum Beispiel über Armut und deren Folgen für Denken, Lernen und Leben. Und er schreibt einfach schöne, unendlich schillernde Sätze wie diesen, mit dem er mal eben die angeblich klassenlose kommunistische Sowjetunion der 30er Jahre versenkt: »Unter den schlammbraunen, steif gestärkten Uniformen trugen die Herrscher im Kreml derweil die Kleider des massakrierten Kaisers weiter.«

Allen Zahlen wohnt ein Zauber inne, seufzt man als mathematische Null: Wie viel man doch verpasst hat! Aber Tammet ist nicht nur weit davon entfernt, Zauberschleier zu zerfetzen – er lässt einem auch keine Chance für Frust und Selbstmitleid, er verzaubert einen einfach beim Lesen.

| PIEKE BIERMANN

Eine erste Version der Rezension wurde am 11. März 2014 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.

Titelangaben
Daniel Tammet: Die Poesie der Primzahlen
(Thinking in Numbers. How Maths Illuminates Our Lives, 2012)
Aus dem Englischen von Dagmar Mallett
München: Hanser 2014
317 Seiten. 19,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Take the Challenge!

Nächster Artikel

Femme fatale, männerverschlingend

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Die Krake des Kapitalismus

Gesellschaft | Jakob Weiss: Die Schweizer Landwirtschaft stirbt leise Wir werden auf den Teppich geholt, und Jakob Weiss ist nicht der erste, der die größenwahnsinnigen Impulse des Menschen, über die Natur regieren zu wollen, ins Visier nimmt. Qua Einblick in schweizerische Verhältnisse werden wir auf grundlegende Probleme der Landwirtschaft gestoßen. Von WOLF SENFF

Küsse tauschen

Kulturbuch | Henry F. Urban: Die Entdeckung Berlins Für die einen ist Berlin das Letzte, ein charakterloses Gemisch, für andere ein freiheitlicher Magnet, eine Human-Werkstatt. Je nach Sympathie mal bloß Behauptstadt, mal Überhauptstadt. Wer meint, Berlin-Hype und Berlin-Bashing seien etwas Neues, wird von einem wiederentdeckten Berlin-Buch eines fröhlichen Besseren belehrt. Von PIEKE BIERMANN

Schwarze Kultur

Kulturbuch | Jan Niklas Meier, Monster. Essays Was sich mit Schwarz schmückt, ist Subkultur, darin ist man sich einig. Der »Knotenpunkt« der sogenannten ›Schwarzen Szene‹, das wären die Grufties, Kultur des Gothic, Gothicka, und sobald einer die schwarze Szene bemüht, Achtung!, da wird’s bedenklich, doch wir beschäftigen uns mit den Essays von Jan Niklas Meier. Von WOLF SENFF

Mein Freund, der Baum

Kulturbuch | Julia Gruber, Erwin Thoma: Bäume für die Seele Eine Architektin und ein Förster schreiben zusammen ein Buch über die zauberhafte Wirkung von Bäumen. Was zuerst nach weltentfremdetem Hokuspokus schmeckt, entpuppt sich als vorsichtige Annäherung an das größte Lebewesen auf diesem Planeten. Julia Gruber und Erwin Thoma regen an, darüber nachzudenken, welche Verbindung zwischen Natur und Mensch bestehen könnte. In ›Bäume für die Seele. Welches Holz stärkt mich?‹ wird aus totem Holz lebendige Seelennahrung. VIOLA STOCKER ließ sich verköstigen.

Beckmann mit dem ICE

Kulturbuch | Max Beckmann. Die Landschaften

Soviel Beckmann gab es noch nie! Diesem Diktum kann man nicht nur, man muss ihm gar zustimmen. SEBASTIAN KARNATZ nimmt – zumindest lesend – die Reise von Basel über Frankfurt nach Leipzig auf sich.