Lite Ratur | Wolf Senff: Vertreibung
Absurd, dass er das immer noch nicht peilt. Wo er doch stets so hochleistungsorientiert auftritt. Krähe blickte spöttisch herab von dem Querbalken, der die Filmleinwand trug, es war ein angenehm sommerlicher Abend, sie sah auf das Publikum, das vom Alsteranlieger aus die Szenen auf der Leinwand verfolgte, knapp hundert Leute mochten dort versammelt sein.
Gewiss, sagte sie, ihr wollt unterhalten sein, abgelenkt – was bleibt euch übrig. Dabei hätte man gern auf eure Intelligenz gezählt, ja auch wir, denn die Folgen werden uns ebenso treffen. Es gibt Lebewesen, die existieren seit Millionen Jahren.
Der Wal zum Beispiel, er hat sich in die Abläufe der Natur integriert, man kann nicht einmal sagen, dass er sie für seine Zwecke nutzen würde, verstehst du. Sie warf einen zweifelnden Blick auf Tim. Der traute sich kein Wort zu sagen. Dabei war er sonst so redselig.
Du weißt natürlich, dass der Wal sich über Hunderte von Kilometern verständigt, der ausgewachsene Pottwal ist ein Einzelgänger, er zieht seiner Wege von Ozean zu Ozean, als handle es sich um einen Spaziergang im Park, verstehst du, er fühlt sich heimisch auf dem Planeten, er hat sich eingelebt. Das unterscheidet ihn von euch, denn wo jemand heimisch ist, da richtet er keine Zerstörungen an, sondern geht pfleglich um mit den Schätzen des großen gemeinsamen Gartens.
Nein, er beutet die Schätze nicht aus. Welchen Sinn hätte es, den wohlgeordneten Garten zu plündern, seine Ressourcen und seine kostbaren Früchte zu verbrauchen, sag‘ welchen Sinn. Krähe hüpfte einige Schritte zum Rand der Querstange, ihre Bewegungen, so plump sie dem unbedarften Beobachter erscheinen mochten, waren von unerschütterlicher Sicherheit, und wer aufmerksam zusah, dem konnte ihre schlichte Eleganz nicht entgehen.
Dann flog sie, vielleicht weil ihr der Ton zu laut wurde, zum anderen Ende des Balkens, und wie graziös bewegte sie die Flügel, wie bruchlos glitt sie durch die Lüfte, was sind Turbulenzen, und vernahmen wir je, dass eine Krähe abgestürzt wäre?
Von Denken, gar Nachdenken, von Überlegen mochte sie nicht reden. Der Mensch, sagte sie, handle vorwiegend unüberlegt, er handle wie im Rausch und seine Erfolge sind trügerisch, Klugheit geht anders.
Er will nicht wahrhaben, dass einzelne Regionen unbewohnbar werden, sei es, weil saisonal verheerende Brände ausbrechen, sei es, weil die Wasser über die Ufer treten. Ist es so? Sie wandte ihren Blick Tim zu, doch der schwieg. Der Mensch will nicht wahrhaben, sagte sie, dass unter der auf Hochleistung getrimmten Landwirtschaft die Vielfalt des Lebendigen verarmt.
Ihr seid zu feige, darüber auch nur zu reden, stimmt’s, einer wie der andere, ihr scheißt euch in die Hose. Die Region von Tschernobyl ist schon länger, die um Fukushima seit wenigen Jahren verseucht und unbewohnbar. Es wird mehr davon geben. Wo werdet ihr den nuklearen Müll lagern, und sind nicht bereits jetzt mehr Regionen unbewohnbar, als ihr zugeben wollt?
Tim schwieg. Was sollte er auch sagen. Der Mensch kennt weder Maß noch Ziel, Krähe hatte so unrecht nicht, Pflanzen wie Tiere gehörten jetzt schon zu den Opfern, und niemand gebot der Zerstörung Einhalt. Genau so muss es einst gewesen sein, als der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde.
Das lässt sich trefflich vergleichen, sagte Krähe, und beide Male ist’s der Mensch, der den Versuchungen nicht widerstand, es ist ein Elend, dass ihr keine Vernunft annehmt.