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Berg- und Talfahrt

Literatur | Theo Breuer: Deutschsprachige Prosa (Teil 2)

Neue bzw. neu aufgelegte deutschsprachige Bücher aus den Jahren 1999 bis 2004 (Teil 2). Von THEO BREUER

TITEL Lite RaturZielgruppe des 2001 erschienenen Romans „Die FRÖSI-Bande“ von Christian Wolter sind „20- bis 40jährige Leser“, betont Michael Schönauer, der seit Jahren den sich stets kämpferisch gebenden Verlag KILLROY MEDIA in Asperg bei Stuttgart erfolgreich über Wasser hält. Berüchtigt ist beispielsweise die „rote Bibel“ Social Beat SLAM!Poetry 1, in der sich die außerliterarische Opposition gewaltig zu Wort meldet und die – wie die von Boris Kerenski und Sergiu Stefanescu herausgebene Anthologie „Kaltland Beat – Neue deutsche Szene“ (17) – in keinem Bücherregal fehlen sollte, das den Anspruch stellt, zeitgenössische deutsche Literatur zu versammeln. Seit Jahren wagt es Schönauer auch in regelmäßigen Abständen, Einzeltitel auf dem literarischen Jahrmarkt der Eitelkeiten anzubieten, was bei der Masse der von Groß- bzw. Mammutverlagen angebotenen Konkurrenzprodukten schon auf so etwas wie Todesmut eines außerirdischen Phantasten schließen läßt (von denen es erfreulicherweise noch eine ganze Reihe mehr gibt!). Immerhin, Schönauer wirkt am Telefon stets freundlich, gelassen und verbindlich, und er läßt sich von meinem Desinteresse an Christian Wolters Post-DDR-Roman „Die FRÖSI-Bande“ auch nicht so leicht aus der Fassung bringen. „Na ja, ich kann’s ja mal anlesen“, meinte ich abschließend betont lustlos, immer noch ein wenig verwundert darüber, daß er ausgerechnet mich, einen immerhin 48jährigen, für diesen doch offensichtlich als „Jugendbuch“ gedachten Titel gewinnen wollte. Entsprechend also meine Stimmung, als ich das Buch auspackte. Na ja, Sie können sich ja schon wieder denken, worauf das hier hinausläuft, lassen wir also die Katze gleich aus dem Sack: Christian Wolter (*1972 im mecklenburgischen Teterow geboren) hat mit „Die FRÖSI-Bande“ einen kernigen Romanerstling aus dem literarischen Hut gezaubert, der auch für einen alten Bock wie mich 248 Seiten lang beste Unterhaltung gewesen ist. Cool und frech, hemmungslos und kaltschnäuzig, mit einer salopp-schnoddrigen Souveränität schildert der in der Psychiatrie gelandete Henry Haschke die wesentlichen Episoden seiner wilden mecklenburgischen Kinder- und Jugendjahre vor und vor allem nach 1989. Herausgekommen ist dabei die Geschichte der (L)OST GENERATION der 90er Jahre, exemplarisch durch die aufmüpfige, kriminell energische „FRÖSI-Bande“ dargestellt, die sich mit innerem und äußerem Protest gegen gesellschaftliche Vereinnahmung zu wehren versucht und dabei immer wieder in der Scheiße landet, aus der allerdings am märchenhaften Ende tatsächlich noch Gold wird – herrlich. Diese Geschichte (entweder ähnlich erlebt oder kongenial nachempfunden) zu lesen ist deshalb höchst unterhaltsam, weil Christian Wolter Chaos und Katastrophe in einer lockeren, schelmischen (dabei authentischen) Sprache erzählt, die selbst aus dem heftigsten Knockout noch etwas Positives herausholt. Ob dieses Buch Lesern vom Typ einer Sigrid Löffler (die ja kurz vor dem Abnippeln einer meiner meistgehaßten Fernsehsendungen – Das literarische Quartett – wegen erotischer Engstirnigkeit aus Marcels Mannschaft geekelt wurde) zusagt, sei einmal dahingestellt (denn was der Sendung mit der Maus die Lach- und Sachgeschichten, sind der „FRÖSI-Bande“ die ******- und Sackgeschichten), und ob es jedermanns literarischem Geschmack entspricht, wenn Henry bekanntgibt: „Es war heiß, den Berbern gärte die Scheiße im Schritt“, weiß ich auch nicht. Ich habe jedenfalls bei dieser stilsicher und wortgewandt eingesetzten, funktional stimmigen Formulierung laut aufgelacht und mich bereits auf das nächste Bonmot gefreut, das sich dann auch eine halbe Seite später zielsicher einstellte. Flüssig und spannend und der haarigen Adoleszenz-Thematik (einschließlich eines intensiv geschilderten Horrortrips, bei dem mit einem Mal Schluß mit lustig ist) total angepaßt erzählt, entwickelt sich dieser pikareske Roman zu einer flotten Satire mit Attacken auf Kleinbürger, Neonazis, Deutsche Bank und Bayern München (schließlich ist Haschke Hansa-Fan und verliert selbstredend auf einer Bahnfahrt nach Rostock die Unschuld), die auch für saturierte Wohlstandsfanatiker eine durchaus ergiebige und kurzweilige Lektüre sein kann. Ob der Nachgeschmack schließlich eher gallenbitter oder honigsüß ist, hängt wohl von der jeweiligen persönlichen Empfindsamkeit ab – denn tatsächlich hinterläßt dieses burschikose Buch beides. Soll jedoch keiner sagen, ich hätte nicht gewarnt.

Vor gar nichts zu warnen gibt es bei dem ebenfalls in Baden-Württemberg – in Tübingen – angesiedelten Verlag KLÖPFER UND MEYER, der mir seit einigen Jahren mit jedem Buch mehr ans Herz wächst – wobei nicht jeder Titel meinen Gefallen finden muß. Dennoch: Hubert Klöpfer ist ein souveräner Verleger mit Feeling für gut erzählte Geschichten. Sicher, ein Christian Wolter hätte bei ihm keine Chance, aber wozu auch, der hat ja den Asperger Nachbarn als Verleger! Waren es zunächst die Lyriker, die mich zu KLÖPFER & MEYER hinzogen (pars pro toto: Walle Sayer, von dem es auch einen feinen Kurzprosaband gibt: „Kohlrabenweißes“), sind es nun auch die prosaischen Bücher, denen ich viele schöne Stunden der Lektüre verdanke. Ich habe neben mir die Bücher von KLÖPFER UND MEYER gestapelt und lasse Erinnerungen genußvoll Revue passieren. Gleichzeit erfreue ich mich an der Buchgestaltung: Wie Arno Schmidt entferne ich ja als erstes immer die Schutzumschläge, die ich grundsätzlich ablehne. Im besten Sinne gediegen kommen die fein geriffelten, fest gebundenen Bücher daher: in blauen, roten und gelegentlich grünen Tönen. Das sieht einfach gut aus. Ich greife die besten aus den mir vorliegenden 18 Büchern heraus (18), unter denen ich keinen Flop entdeckt habe, auch wenn ich Kurt Oesterles „Der Fernsehgast“ oder Joachim Zelters „Das Gesicht“ nicht so hoch einschätze wie mancher auf dem Umschlag zitierte Kritiker (ein weiterer Grund diesen zu entfernen), auch wenn Manfred Zach die Intensität seines mitreißenden Politromans „Monrepos oder Die Kälte der Macht“ in „Die Bewerbung“ und „Bolero“ nicht wiederholen kann: Draginja Dorpats „Und zu Küssen kam es kaum“ ist eine leidenschaftliche trizonesische Kindheitsgeschichte nach 1945, Wolfgang Duffner und Heiner Feldhoff präsentieren in ihren Sammlungen von Kurzprosa „Der Gesang der Hähne“ bzw. „Kafkas Hund“ eine Palette geistiger Blitze, die auch den Leser ansprechen und begeistern dürften, der eigentlich schon beschlossen hat, künftig keine langwierige Prosa mehr zu lesen, sondern nur noch Lyrik. Während Hans Peter Hoffmann in „Der Nichtstuer“ starke Reminiszenzen an einen meiner liebsten Autoren – Thomas Bernhard – hervorruft (was mich fesselt und befremdet zugleich), hat er mit „Langsame Zeit“ ein so phantastisches Buch geschrieben, daß ich uneingeschränkt und fortwährend nicke und das Buch nicht aus der Hand legen kann, bis es – weit nach Mitternacht – zu Ende gelesen ist. „Langsame Zeit“ sind romanhafte Reflexionen, gesammelt auf einer Reise durch das Elsaß, zusammengehalten durch eine Sprache, deren Genauigkeit und Ruhe schlicht wohltuend ist. Ein wunderbares Buch, in dem Hans Peter Hoffmann endgültig zu seinem Stil gefunden hat. Gerhard Köpf, dem Autor des Essaybandes „Die Vorzüge der Windhunde“, bin ich zu Dank verpflichtet: In seinen zwei Aufsätzen macht er mich auf die Gregor von Rezzori und Ilse Schneider-Lengyel Schriftsteller aufmerksam. Köpfs suggestiver Art kann ich mich nicht entziehen: Gleich nach der Lektüre habe ich – bei EBAY bzw. EUROBUCH.COM – geboten und bestellt. (19) Begeben Sie sich mit Tina Stroheker nach Polen: „Pommes Frites in Gleiwitz“ ist ein besinnliches und vergnügliches Buch mit Aufzeichnungen (20) einer Schriftstellerin auf ihren polnischen Reisen. Gleichauf mit Hans Peter Hoffmann sehe ich den letzten Autor im Klöpfer-Alphabet: Werner Zillig hat mit „Die Festschrift“ eine feine Satire über die universitären und liebevollen Verbindungen eines ganz bestimmten Menschenschlags geschrieben, der Bücher liest, wie ich sie auch gern lese, und sich mit ähnlichen Problemen herumzuschlagen hat, schau an. Flott und schnittig, da geht plötzlich so richtig die Post ab mit einer wahrhaft zu Herzen gehenden Überraschung, daß ich ausrufen möchte: Mein Gott, Herr Pfarrer! und Touché, Herr Zillig! (21)Anmerkungen:17)

Dieser fulminante Reader darf den Anspruch stellen, repräsentativ zu sein, was ich bei der von Hubert Winkels herausgegebenen Anthologie BESTE DEUTSCHE ERZÄHLER 2003 doch bezweifeln möchte; gerade mal 19 Beiträger mit je einer Erzählung, die eigens für dieses Buch geschrieben sein muß: klingt nach Krampf und Zufallsauswahl, ist jedenfalls nicht mein Ding, mal ganz davon abgesehen, daß sich hier natürlich auch vortreffliche Zeilen finden. Monika Maron beispielsweise finde ich sehr gut.18) deren Bandbreite Roman, Essay, Erzählung, Miniaturprosa, und Aufzeichnung umfaßt!19) Apropos Essay: In MEIN LIEBSTER FEIND – ESSAYS, REDEN, MINIATUREN zeigt Robert Schindel wieder, daß er einer der originellsten und kraftvollsten deutschsprachigen Schriftsteller in dieser Zeit ist: ob Roman (KASSANDRA und GEBÜRTIG sind einfach phantastisch!), Essay oder Lyrik (2004 sind zum 60. die gesammelten Gedichte erschienen) – der Mann gehört zu den vitalsten zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache. Auf gleichem Niveau sehe ich auch Wilhelm Genazino, von dem ich jedes Buch lese, das ich in die Finger kriege – ob Essay oder Roman: DER FLECK, DIE JACKE, DER SCHMERZ heißt der neue (gleichsam pointilistische) Roman, in dem Liebe und Kultur zu Chiffren für die Weltreise an sich werden.20) Ich liebe es, Aufzeichnungen zu lesen: Hans Bender, Jahrgang 1919, ist deutscher Altmeister der Aufzeichnung, sie ist geradezu sein Markenzeichen. In JENE TRAUBEN DES ZEUXIS beweist er einmal mehr die schlichte Prägnanz seiner von allen Unnötigkeiten befreiten Sprache. – Auch der nicht mehr ganz junge Günter Kunert, 1929 geboren, beschert uns in DIE BOTSCHAFT DES HOTELZIMMERS AN DEN GAST interessante Aufzeichnungen, die die Bandbreite eines Lebens aufzeigen – ironisch, witzig, aber ohne Illusionen.21) Sie sehen, es muß nicht immer Martin Walser sein! Trotzdem gebe ich gern zu, daß ich alle Romane Walsers gelesen habe, wovon einer der letzten allerdings völlig mißglückt ist: TOD EINES KRITIKERS. Die Vorwürfe, die die Kulturapostel erhoben, sind zwar völlig unberechtigt, aber als mein literarisches Urteil erlaube ich mir die Bewertung: nicht besonders wertvoll. Besonders wertvoll dagegen ist der letzte Prosaband unseres Größten: Die Novelle IM KREBSGANG von Günter Grass ist so gut, daß es besser kaum geht. Hier hat sich Grass noch einmal selbst übertroffen. Sicherlich wird IM KREBSGANG nicht das letzte Buch von Grass gewesen sein; ich bin gespannt auf Weiteres.

| THEO BREUER

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