Ein Denkmal wankt

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Die Reputation

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. Im Mittelpunkt seines neuen Romans ›Die Reputation‹ steht ein bekannter Karikaturist, der das politisch-gesellschaftliche Leben mit spitzer Feder mutig begleitet und sich nicht scheut, brisante Themen aufzugreifen. Von PETER MOHR

ReputationDieser Javier Mallarino lässt sich in der bizarren Eingangsszene im Herzen Bogotás die Schuhe putzen, ehe er sich zu einem Festakt begibt, in dem er für sein Lebenswerk geehrt werden soll.

Er fragt den Schuhputzer, ob er Javier Mallarino kennen würde. »Der die Männchen malt«, erhält er als fragende Antwort. Und der Schuhputzer ergänzt, dass Mallarino Gerüchten zufolge, nicht mehr in die Stadt kommt und Bogotá satt habe. Dem bekannten Unbekannten begegnet dann plötzlich in einem Tagtraum der berühmte, allerdings schon 80 Jahre tote Karikaturist Ricardo Rendón, der sich einst in einer Kneipe ein Blatt und einen Stift geben ließ, ein Bildchen zeichnete, dass einen Mann mit Pistole zeigte und sich anschließend selbst eine Kugel in den Kopf jagte.

Erst mit fortschreitender Handlung fügt sich dieser anfängliche Tagtraum in das hektische Treiben um den anscheinend so prinzipientreuen und integren Mallarino. Als liebenswerten Sturkopf lernen wir ihn kennen. Eine Festanstellung bei einer Zeitung hatte er abgelehnt, weil er um seine politische Unabhängigkeit fürchtete. Mit seinen 65 Jahren blickt der Protagonist in einer Mischung aus Eitelkeit und Melancholie (»Auch mich wird man eines Tages vergessen«) auf sein Leben zurück, einerseits stolz auf seinen politischen Einfluss, andererseits gekränkt darüber, dass er nicht überall (wie beim Schuhputzer) erkannt wird. »Mallarino blieb unerkennbar, ein anonymes Wesen auf den belebten Straßen.«

Der 43-jährige Juan Gabriel Vásquez hat sich erzählerisch in das unwegsame Grenzgebiet zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Privatleben begeben und vorsichtig an seinem zuvor errichteten Mallarino-Denkmal gekratzt. Ist der Protagonist wirklich ein so untadeliger, aufrechter Zeitgenosse?

Der Karikaturist erhält unerwarteten Besuch von der jungen Samata Leal, die vorgibt, Journalistin zu sein und ihn geschickt in Fragen aus seinem Privatleben verstrickt. Vor mehr als einem Vierteljahrhundert war die offensichtlich stark traumatisierte Samanta als Freundin der Tochter schon einmal bei den Mallarinos zu Gast. Wenig später hatte der Protagonist eine Karikatur angefertigt, die einen pädophilen Party-Gast darstellte. Daraufhin ereignete sich ein Selbstmord. Und schon schließt sich beim Leser der gedankliche Kreis zu Mallarinos anfänglichem Tagtraum, zum öffentlichen Selbstmord des berühmten Redón.

Durch vage Andeutungen werden bohrende Zweifel gesät. Juan Gabriel Vásquez ist mit diesem schmalen Roman ein grandioses Buch gegen das Vergessen und Verdrängen gelungen, das uns mit den quälenden Fragen nach Heuchelei und Doppelmoral, nach Schuld und Vergebung betroffen zurücklässt. Eine neue, unverbrauchte Stimme Lateinamerikas. Den Namen Juan Gabriel Vásquez müssen wir uns für die Zukunft merken.

| PETER MOHR

Titelangaben
Juan Gabriel Vásquez: Die Reputation
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Frankfurt/Main: Schöffling Verlag 2016
185 Seiten. 19,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Trübe Aussichten?

Nächster Artikel

Kuba und die Revolution

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Vielstimmige Collage

Roman | Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren

»Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern«, lässt die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla einen Chor aus unterschiedlichsten Stimmen zu Beginn ihres collageartigen Romans über den NSU-Prozess sagen. Von PETER MOHR

In der Welt der Kryptowährungen

Roman | Tom Hillenbrand: Montecrypto

Ed Dante, Ex-Buchhalter und aktuell als Privatdetektiv unterwegs, betreibt eine Ein-Mann-Firma namens »Financial Forensics«. Was nach großem Geld klingt, hält den Mann in LA aber kaum über Wasser. Als er deshalb den Auftrag bekommt, nach dem verborgenen Schatz des über dem Golf von Mexiko mit seinem Privatflugzeug abgestürzten Internetunternehmers Gregory Hollister zu suchen, begibt er sich auf die Fährte von dessen Bitcoin-Milliarden. Worauf er sich bei der Suche nach »Montecrypto«, wie die Medien den digitalen Schatz bald liebevoll nennen, einlässt, ahnt er freilich nicht. Von DIETMAR JACOBSEN

Angst, Hunger und Durst

Roman | Jesús Carrascos: Die Flucht Jesús Carrascos glänzendes Romandebüt Die Flucht. Von PETER MOHR

Mörderjagd im Nachkriegs-Wien

Roman | Karl Rittner: Die Toten von Wien

Eigentlich sucht Alexander Baran seit beinahe einem Jahrzehnt nach seiner verschwundenen Schwester Szonja. Da trifft es sich ganz gut, dass der ungarische Adlige, der eigentlich Sandor Baranyi heißt, nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und dort bei der Polizei gelandet ist. Als Kommissär, dessen Abteilung »Verbrechen an Leib und Leben« aufzuklären hat, muss er sich aktuell freilich mit seinem Kollegen Florian Meisel um den Fall einer ermordeten Tänzerin kümmern. Bald kommen weitere Todesfälle hinzu. Und auch für die beiden Polizisten wird es immer gefährlicher. Von DIETMAR JACOBSEN

Gewalt in Worte gefasst

Roman | Valerie Fritsch: Zitronen

»Ich glaube nicht, dass es nur ein dunkler Roman ist. Das Leben ist nicht linear. Natürlich handelt es sich bei Gewalt um etwas Düsteres, aber dennoch ist sie allgegenwärtig. Trotzdem geht es in diesem Roman auch viel um Zärtlichkeit. Aber es stimmt schon, es ist sicher ein Buch der Unbarmherzigkeit«, hatte die 34-jährige österreichische Schriftstellerin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch in einem Interview über ihren Roman Zitronen erklärt. Von PETER MOHR