Die Arbeiter rackern sich »den Arsch aus der Hose«, hoffen auf zehn Richtige im Lotto und kämpfen sich bis dahin mit reichlich Schnaps, Zigaretten und allzu fettem Essen durch die Mühsal der Tage. Mit seinem neuen Roman errichtet Martin Becker ein literarisches Denkmal für ein aussterbendes Milieu, eine scheinbar verschwundene Klasse, ungeschönt und ohne falsche Melancholie. Von INGEBORG JAISER
Es bedarf nur weniger Sätze, um die altbekannten Szenerien wiederzubeleben, wie ein abgenutztes Familienalbum mit buntstichigen Fotos, wie einen verwackelten Super-8-Film. Allzu vertraut kommen einem die Schilderungen vor – und das nicht von ungefähr. Bereits in seinen beiden vorhergehenden Romanen Marschmusik (2017) und Kleinstadtfarben (2021) hat Martin Becker das Milieu der sogenannten kleinen Leute beschrieben. Und nun kehrt er noch einmal zurück. »Wenn es einen Grund gibt, die Geschichte unserer Familie abermals zu erzählen, erschöpfend bis zur Erschöpfung, dann diesen: damit sie nicht gänzlich verloren geht.«
Der Lohn für die Maloche
Fast traumwandlerisch tappt man als Leser durch das bescheidene Reihenmittelhaus in Plettenberg, finanziert durch schwindelerregende Kredite und ausstaffiert mit in Ratenzahlung erstandenem Mobiliar aus dem Warenhauskatalog, durchgewetzt und vom steten Zigarettenrauch vergilbt. Dabei ist dieses dürftige Eigenheim viel zu eng für eine Familie mit vier Kindern, viel zu dünnwandig für eine ständig räsonierende Mutter, einen aufbrausenden Vater, eine die Nächte durchjammernde behinderte Schwester. Die billigen Outdoorklamotten, unmodischen Pullover und Kittelschürzen stammen vom Aldi-Sondertisch oder vom Quelle-Versand, für dessen Änderungsdienst die Mutter lange Jahre arbeitet.
Doch nie reicht das Geld, alles wird auf Pump gekauft, insgeheim ahnend, dass immer nur einer gewinnt, die Bank. Dabei weiß man doch: »Wir arbeiten uns den Arsch aus der Hose. Unter Tage ist es finster, in der Schmiede heiß, in der Wäscherei stickig.« Falls die Schmerzen von der dauernden Maloche überhandnehmen, helfen nur Hausmittel: »samstags eine Kiste Bier und eine Flasche Schnaps. Sonntags ein Liter Rotwein aus dem Tetra Pak.« Das ist das Leben, bis eines Tages (vielleicht) das große Los gezogen wird. Doch stattdessen kommt das dicke Ende. Die Eltern verwelken, sterben viel zu früh, noch ehe die Rente genossen werden kann. Als nach ihrem Tod das Eigenheim geräumt und verkauft werden muss, sind noch nicht einmal alle Kredite getilgt.
Raus aus dem Milieu
Haarscharf schreibt der 1982 im sauerländischen Attendorn geborene Schriftsteller und Journalist Martin Becker an seiner eigenen Vita entlang. Doch in Zeiten modern gewordenen autofiktionalen Erzählens lässt er keinen Zweifel daran, dass sein Roman exemplarischen Charakter hat, stellvertretend für beliebige Fallgeschichten eines proletarischen Lebens. Die wenigen demographischen und soziologischen Exkurse sind sparsam eingestreut und treffen dennoch punktgenau den Nerv.
Gehörten 1970 in Westdeutschland noch 47,3 Prozent der Erwerbstätigen der Arbeiterklasse an, so waren es im Jahr 2021 nur noch 12,3 Prozent. Die Kinder der Bergleute und Näherinnen haben sich emporgekämpft und werden dennoch nie die »reihenhausprekäre« Aura ihres Milieus los. So wie Martin Becker – längst aus der Provinz weggezogen, studienerfahren und selbst zweifacher Vater – sich kaum aus den Fangarmen seiner Herkunft zu lösen vermag. Jeder beschriebene Besuch in der Heimat endet in voreiliger Abreise »und es bleibt wie immer das Gefühl, das Wesentliche verpasst, das Eigentliche nicht gesehen, das Wichtige nicht besprochen zu haben.«
Varianten des Geschehens
Vergangenheit, Gegenwart und erträumte Zukunft verschränkt Martin Becker zu einem losen, lockeren, brüchigen Gewebe, als wäre es den Handarbeiten der Mutter entlehnt, die kürzt und flickt, repariert und ausbessert – um am Ende wieder alles aufzurippeln. Doch der Autor zeigt sich souverän als Herrscher des Geschehens. Mehr als einmal spielt er verschiedene Versionen eines Geschehens durch oder spinnt für die kurz nach der Geburt verstorbene Schwester Uta ein neues, rebellisches, autonomes Leben. Es könnte auch anders gewesen sein.
Martin Beckers Blick auf die eigene Familiengeschichte erfolgt ungeschönt und ohne falsche Verklärung, doch von Liebe, Zärtlichkeit und spätem Verständnis geprägt. Dass die Niederschrift an den Kräften gezehrt haben mag, lässt sich bei der Lektüre unterschwellig erahnen, ist der Zwiespalt zwischen Annäherung und Flucht doch offenkundig. Denn »man will ja immer erst dann nach Hause, wenn es nicht mehr geht.«
Titelangaben
Martin Becker: Die Arbeiter
München: Luchterhand 2023
300 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Martin Becker in TITEL kulturmagazin