/

Oktoberfestmitternacht

Musik | Textminiatur und »Biermusik«

Zwischen Nacht und Morgen auf dem Nachhauseweg in dem Viertel, in dem das Oktoberfest stattfindet. Aus einem Fernzug und aus’m Bahnhof heraus, der von auf dem Fußboden schlafenden Personen, die auf den ersten Zug in der Frühe warten, offensichtlich zum Camp umfunktioniert wurde. Am Gehsteig weggeworfener Firlefanz, Flaschen, Essenstüten. Von TINA KAROLINA STAUNER

Menschen, die so betrunken sind, dass sie keinen geraden Schritt, keine normale Bewegung mehr machen, kommen ihr entgegen. Sie kann kaum glauben, dass jemand so betrunken sein kann. Ein paar Schritte weiter fährt ein Rollstuhlfahrer einen abschüssigen Gehsteig hinunter und dabei mehrmals direkt an die Mauer daneben. Die ganze Szenerie wirkt absurd.

An einer dunkelgrauen Mauer mit einer Gedenktafel an ein Unglück im Jahr 1960. Minuten später zuhause kommt ihr das Apartment, das ihr immer zu klein und mickrig war, auf einmal geradezu gemütlich und hochwertig vor. Mit der rosafarbenen Blüte, die sie gestern auf den Tisch gestellt hatte. Sie hat vier ringförmige Farbbereiche. Steht in einer bauchigen, dunkelblauen Vase. Es stapeln sich Bücher, CDs, Bilder und Songs nach Faible und Laune. Was ihr manchmal wie wenig vorkam, ist auf einmal doch mehr.

Mehr als das, was Horden von besoffenen Oktoberfestbesuchern an Anspruch haben. Bei Bier, Blaskapellen und Buden. Jahre später an einem Regennachmittag nach Oktoberfestende sieht sie beim Vorbeigehen an der Wiesn auf einem Festzelt noch wie eine Galionsfigur weiße Pferde prangen. Es ist kalt und es nieselt und sie denkt einen Moment an den Song „White Horses“.


Darlingside – „White Horses“

Eine Art Glücksrad ist für viele die Festwiese. „Biermusik“ ist eine CD-Veröffentlichung dazu. 19 Jahre her. Von den 50- bis 90-jährigen Schmid, Fürst, Preis, Kaiser. Die sollen von „Bavarian Bluenotes“.der Blasmusik gesprochen haben. Krinoline war der Bandname. Und so wird auch die walzernde Plattform eines Karussells genannt und ein Damen-Reifrock aus dem 19. Jahrhundert.

Krinoline-Karusselle kamen Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Eine Fünf-Mann-Krinoline-Kapelle hat die Besetzung zwei Flügelhörner und ein Tenorhorn als Träger der Melodie, Basstrompete und Tuba als Maschine der Musik. Geht in Bayern auch bei Swingjazzern, Tango tanzenden Finnen, Mariachimusikern und Attwenger-Hörern durch und ist eine Blaskapelle des traditionellen Oktoberfests auf einem Balkon neben einem Karusell.

| TINA KAROLINA STAUNER

Titelangaben
Krinoline
„Biermusik!“
(Indigo/Fischrecords, 2000)

„Birds Say“
Darlingside
(More Doug Records/Membran, 2016)

Oktoberfestmitternacht, 2008/19
Textminiatur aus ›For Four Decades‹, Tina Karolina Stauner

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Klempner zum Architekten

Nächster Artikel

Die Literatur-Nobelpreisträger 2019

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Zurückgelehnt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zurückgelehnt

Ob das ein geeigneter Blickwinkel sei, zweifelte Anne.

Er verstehe nicht, sagte Tilman.

Lässig in der Ledergarnitur zu lehnen, spottete Anne, samt Gebäck in Reichweite, und über die Apokalypse zu schwadronieren.
Er schwadroniere keineswegs, wehrte er sich, die Fakten seien bekannt, die Bilder der Katastrophen seien authentisch, Orkane, Feuersbrünste, Überflutungen, jeder wisse Bescheid, über was solle man streiten.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Zu guter Letzt wird alles einfach, sagte der Zwilling, wutsch!, und unsere Probleme sind vom Tisch.

Wie, unsere Probleme sind vom Tisch.

Vom Tisch. Weg. Nicht mehr da.

Sind gelöst?

Der Zwilling lachte.

Es gibt sie nicht mehr, verstehst du, sagte Crockeye.

Nein, sagte Bildoon, verstehe ich nicht.

Im Labyrinth der Zeit

Kurzprosa | Mike Markart: Venezianische Spaziergänge

»Ventisette Passeggiate« – dazu lädt der Grazer Autor Mike Markart in seinem neuesten Erzählband Venezianische Spaziergänge ein. Er führt uns als Bewohner durch die Lagunenstadt. Nicht als anekdotenverliebter Fremdenführer. Nicht als Korrespondent und Kolumnist einer der großen Tageszeitungen, nicht als Verführer und berühmter Novellist, schon gar nicht als Mega-Influencer eines zu Markte getragenen Lagunen-Luxus, der bei einem Zwischenstop vom Kreuzfahrtdampfer aus konsumiert werden will. Markart meidet vorhersehbare Orte, zeichnet keine üblichen Klischees oder schwört gar auf die Zeit des Carnevale. Er begegnet nur hin und wieder einem seiner Nachbarn – alten Menschen, die im Gewühle der Serenissima ein alltägliches Leben führen. Von HUBERT HOLZMANN

Im Reich der Lichter

Kurzprosa | Peter Stamm: Wenn es dunkel wird

Wenn es dunkel wird, öffnet sich die schillernde Gegenwelt des Surrealen: Träume, Sinnestäuschungen, Vexierbilder. Der Schweizer Autor Peter Stamm legt in seinem neuen Erzählband verschwommene Fährten in ein Paralleluniversum, das genauso real erscheint wie die Wirklichkeit. Auch INGEBORG JAISER ist den meisterhaften Blendungen erlegen.

Thekengespräche

Titel-Textfeld | Harald Rutzen: Theken-Gespräche Erreicht hat Günther Tillmann, 46, alles, was er in seinem Leben erreichen wollte: Bausparvertrag, heiraten, eine Familie gründen, um diese dann mit großer Geste wieder aufzulösen (das gehört zusammen) und ein Haus zu bauen und dieses dann verlottern zu lassen. Alles ist vergänglich.