Wenn es dunkel wird, öffnet sich die schillernde Gegenwelt des Surrealen: Träume, Sinnestäuschungen, Vexierbilder. Der Schweizer Autor Peter Stamm legt in seinem neuen Erzählband verschwommene Fährten in ein Paralleluniversum, das genauso real erscheint wie die Wirklichkeit. Auch INGEBORG JAISER ist den meisterhaften Blendungen erlegen.
Schon das Covermotiv verströmt eine mystische, in ihrer Doppeldeutigkeit hochgradig irritierente Aura. René Magrittes L’empire des lumières zeigt ein nächtlich beleuchtetes Haus unter taghellem Himmel – eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit, die unterschwelliges Schaudern hervorruft: hier stimmt doch etwas nicht! Treffender hätten sich Peter Stamms neueste Erzählungen kaum in eine Bildsprache übersetzen lassen.
Alle elf Geschichten scheinen tastend die Grenzen der Wirklichkeit auszuloten. Als ob lediglich eine dünne, semipermeable Membran zwischen Realität und (Alp-)Traum läge. Oft reicht nur eine winzige Blendung oder Sinnestäuschung, um in ein Zwischenreich, ein Paralleluniversum abzugleiten. Das Surreale ist allgegenwärtig und somit Teil unseres Lebens. Das zeigt sich auch in den Figuren, die Peter Stamms Erzählungen bevölkern: keine herausragenden Persönlichkeiten, eher mittelmäßige Menschen oder gar Randexistenzen, die sich selbst verlieren und im Alltag abhandenkommen.
Sturz in eine wundersame Gegenwelt
So wie der ältere Mitarbeiter kurz vorm Ruhestand, dessen Aufgabengebiet bereits obsolet ist und der immer weniger beachtet wird, bis er sich selbst schleichend aufzulösen scheint (Supermond). Oder wie der Familienvater, der auf der Fahrt in den Winterurlaub an einer Raststätte einen wichtigen dienstlichen Anruf entgegennimmt und so lange telefoniert, bis sein Akku leer ist. Als er zu seiner Familie zurückkehren will, ist sie unauffindbar und offenbar ohne ihn weitergefahren (Der erste Schnee).
Auch in Sabrina, 2019 verliert sich die titelgebende junge Frau, verschmilzt gar mit der Skulptur, die ein Künstler nach ihrem Abbild geschaffen hat. Von märchenhaft-magischen Motiven durchdrungen ist die Erzählung Wenn es dunkel wird, in der eine Polizistin im Alleingang nach vermissten Kindern fahndet und wie in einem Vexierbild von ihrer eigenen Biographie geblendet wird. Am Ende verlaufen alle Spuren im Nichts: »Es ist mein Schrei, den der Nebel verschluckt, meine Klage oder Freude, meine Lust.«
Auch der Protagonist aus Schiffbruch stürzt ins Bodenlose ab, nachdem er sein ganzes Vermögen verzockt und sich in seinem Hotelzimmer verschanzt hat. Doch statt Verzweiflung macht sich eine sorglose Heiterkeit breit: »Robinson hat achtundzwanzig Jahre durchgehalten, dachte Richard, das Abenteuer hat gerade erst begonnen.«
Schlichte Eindringlichkeit
Der 1963 im Schweizer Kanton Thurgau geborene Autor Peter Stamm scheint sich kaum von den Gesetzen des Literaturbetriebs vereinnahmen zu lassen. Unbeirrt hat er ebenso viele Erzählbande wie Romane verfasst – und das obwohl sich die kurze Form der Prosa kaum so publikumswirksam vermarkten lässt wie ein üppiger Schmöker. Doch Leser und Kritiker sind gleichermaßen begeistert. »Wer einmal eine Erzählung von Peter Stamm gelesen hat, der wird sie nie wieder vergessen«, prophezeite einst die FAZ angesichts des frühen Sammelbandes Blitzeis (1999).
Das mag an der schlichten, unverfälschten Eindringlichkeit der Geschichten liegen, deren offenes Ende dennoch die Fantasie beflügelt. Obwohl Peter Stamm einige Semester Psychologie studiert hat, psychologisiert oder dramatisiert er als Autor nie. Minimalismus und Reduktion zeichnen seine schnörkellose Prosa aus, die Einflüsse von Hemingway oder Carver erahnen lässt. Kein Satz, kein schmückendes Adjektiv, keine voreilige Erklärung zu viel. Das öffnet dem Leser weite Räume für eigene Gedanken und Verknüpfungen, für Träume gar, die sich nicht erst einstellen, wenn es dunkel wird.
Titelangaben
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird
Frankfurt: Fischer 2020
190 Seiten. 21.- Euro
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| Ingeborg Jaiser über Peter Stamm in TITEL kulturmagazin