Meine Tochter ist lange schon erwachsen, aber ich erinnere mich gern und gut daran, dass es eigentlich nie ein Thema gab, über das man mit ihr nicht hätte reden können. Es kommt eben immer nur darauf an, die dem Alter des Kindes gemäßen Worte zu finden. Und wie dieses Kinderbuch in Perfektion zeigt, braucht man manchmal überhaupt keine Worte für ein schwieriges Thema, meint BARBARA WEGMANN.
Würde man denn Worte gebrauchen, es fiele mir schwer, die richtigen zu finden für kleine Leser, geht es doch in diesem Bilderbuch ohne Worte um Flucht, Vertreibung, Migration. Würde man Worte gebrauchen, was würde man sagen, wie würde man Not und Armut erklären, das unermessliche Leid der Menschen, die auf der Flucht sind, die ihre Heimat verlassen oder vertrieben werden und sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause machen, nach einem kleinen Stückchen Glück und Zufriedenheit. Ein Weg voller Gefahren und Ungewissheiten. Wie will man das Kindern erklären, wo es doch schon Erwachsenen schwerfällt, sich die Ausmaße der Not vorzustellen. Und was antwortet man auf die so beliebte Frage kleiner Kinder: Warum müssen sie fliehen?
Ein solch schwieriges Thema in eine Fabel zu kleiden, also eine Tiergeschichte, ist ein genialer Schachzug, das Ganze dann auch nur durch die wirklich wunderschönen Illustrationen wortlos zu erzählen, ist geradezu genial. Viele, viele verschiedene Tiere sind es, die den Tod im Nacken haben, die sich zusammentun und wissen, sie müssen sich auf den Weg machen, wenn ihr Leben noch eine Zukunft haben soll. Wenig Gepäck haben sie dabei, eine kleine Tasche, einen Rucksack, ein Gefäß, nur wenig Kleidung, das Nötigste eben. Auf der Flucht wird aus den verschiedenen Tieren, die im früheren Leben sicher nicht eine Gemeinschaft bildeten, nun eine Gruppe Gleichgesinnter. Nur ein Ziel haben sie: weg, wohin auch immer. Jeder hilft jedem unterwegs, eine ungewöhnliche Gemeinschaft mit viel Solidarität, und immer lauert der Tod.
Einen tiefschwarzen Hintergrund hat die Peruanerin Issa Watanabe ihren Figuren als Spielkulisse gegeben, fast wie lebendig heben sich die kleinen und großen, die gefährlichen und die gefährdeten Tiere bunt vom Hintergrund ab. Man beobachtet sie wie gebannt, nichts lenkt ab von den hoffnungslosen, traurigen, angstvollen Gesichtern, die erst zum Schluss des Buches wieder etwas Hoffnung zu schöpfen scheinen. Aber nur wenige haben die Flucht über das große Wasser geschafft.
Kleinen Lesern kann man sicher nicht erzählen, dass laut UNO-Flüchtlingshilfe Ende 2019 die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht waren, bei 79,5 Millionen lag, mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung. »Im Vergleich zum Vorjahr sind fast 9 Millionen Menschen mehr auf der Flucht. Seit 2010 hat sich die Zahl der Menschen auf der Flucht verdoppelt.« Auch Fluchtursachen und politische Hintergründe von Migration wird kein Fünfjähriger verstehen.
Aber ziemlich laut sprechende Bilderbuchseiten, ganz ohne Worte, mit sehr liebevoll gemalten Tieren aller Art, einfühlsam und anrührend in Szene gesetzt, werden Herz und Mitgefühl junger Leser schnell gewinnen und fürs Thema altersgerecht sensibilisieren. Und damit ist doch ein kleiner und kindgerechter Anfang gemacht für die Problematik »Flucht«.
Titelangaben
Issa Watanabe (Idee und Illustration): Flucht
(Migrants, 2020)
München: Hanser 2020
40 Seiten, 16,00 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
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