Im Labyrinth der Zeit

Kurzprosa | Mike Markart: Venezianische Spaziergänge

»Ventisette Passeggiate« – dazu lädt der Grazer Autor Mike Markart in seinem neuesten Erzählband Venezianische Spaziergänge ein. Er führt uns als Bewohner durch die Lagunenstadt. Nicht als anekdotenverliebter Fremdenführer. Nicht als Korrespondent und Kolumnist einer der großen Tageszeitungen, nicht als Verführer und berühmter Novellist, schon gar nicht als Mega-Influencer eines zu Markte getragenen Lagunen-Luxus, der bei einem Zwischenstop vom Kreuzfahrtdampfer aus konsumiert werden will. Markart meidet vorhersehbare Orte, zeichnet keine üblichen Klischees oder schwört gar auf die Zeit des Carnevale. Er begegnet nur hin und wieder einem seiner Nachbarn – alten Menschen, die im Gewühle der Serenissima ein alltägliches Leben führen. Von HUBERT HOLZMANN

Venezianische GondelnMarkarts Venezianische Spaziergänge zeigen also nicht eine Bilderbuchwelt, wie wir sie von Fotos kennen. Vielmehr durchwandert er eine Stadt mit ihren berühmten Plätzen, Gassen und Kanälen, die eben von Touristen »geflutet« ist. Touristen, die das Lauftempo vorgeben, die schieben, drängen, Verabredungen an entfernten Orten schwer planbar machen. Touristen, die am Tage die Wege verstopfen, die aber des Nachts vom »Maul des Fisches« wieder ausgespieen werden. Das Gewimmel verebbt, das Leben in der Stadt erstirbt.

Mike Markart nimmt uns bei seinen Spaziergängen mit auf seinen ganz privaten Wegen, bei seinen Besorgungen, seinen Begegnungen, seinen Verabredungen. Er geht. Das ganze Jahr über. Bei jedem Wetter. Manches Mal sind seine Wege zufällig gewählt, er flüchtet in eine dunkle Gasse, tritt aus dem Strom der Menschen und wirft einen Blick auf das Wasser, sieht das Panaroma der Stadt. Alles tägliche Routine. Und doch immer auch sehr besonders, gewohnt und fremdartig, geheimnisvoll. Sucht nicht die Highlights der Stadt, klappert nicht die TopTen für uns ab, etwa das Florian zum ersten Café, die berühmte Sammlung und den kleinen Garten im Guggenheim, danach das Dinner in der ersten Etage von Harrys Bar, bevor eine Einladung in einem der Palazzi ansteht. Markart will nicht in der Touristenliga mitspielen.

In seinem Erzählband blickt er nicht hinter die Kulissen. Innenräume von Kirchen, Museen, Palazzi bleiben ausgespart. Die Kulturtempel verschlossen. Der Autor sitzt nicht in seinem Künstlerzimmer und sinniert über störende Moskitos, etwa bei der Lektüre von Prousts Recherche. Er durchschreitet eine Stadt, die vom Wasser durchzogen, vom Nebel verborgen scheint. Und ist unterwegs, läuft kreuz und quer durch die ganze Stadt, ohne bestimmten Plan, durchquer das Labyrinth, das Gewirr aus Gassen, Kanälen vom »Maul des Fisches bis zum Schwanz«. Im Blick von oben auf die Stadt ist dieser Fisch gut zu erkennen.

Markart ist überall zu finden – und doch fast nie ins Zentrum, zur Piazza San Marco: »Ich bin wahrscheinlich mehr als ein halbes Jahr nicht über den Markusplatz gegangen. Es hat sich nicht ergeben.« Mit dieser lapidaren Bemerkung beginnt er seine erste Erzählung, seinen ersten Spaziergang. Schmucklos. Beinahe eine Diagnose. Für alle Besucher undenkbar. Sonderbar. Wozu sonst gibt es denn eine Kamera? Ein Selfie mit Tauben vor den Kolonaden doch ein absolutes Muss! Markart erlebt den Platz als ein »Trugbild«, vor dessen Hintergrund er auf die Geheimnisse der Stadt zu sprechen kommt. Er sieht in der Piazza den »Täter«, der die Touristen »als Gefangene hält«.

Markart geht durch diese Stadt und erzählt. Von tiefen Einsichten, den Spiegelungen von Licht und Schatten, von den Gedanken der Einheimischen, von alten Anekdoten, die jedoch nicht nur erklären, erhellen, sondern immer sogleich auch Nebel auf die Orte legen. Und das Geheimnisvolle wird belassen, nichts ist zu fassen, alles wechselt, changiert. Im Licht, im Spiegel des Wasser und den Wellen. Selbst Plätze und ganze Inseln wechseln unerklärlich die Stelle, lassen sich nicht ansteuern, wollen zufällig gefunden werden. Andere Orte, wie das Arsenale, erwachen des Nachts, wenn die Stadt wie ausgestorben daliegt, zu Leben. Die Zeit scheint zurückgedreht und es fahren Schiffe in das Becken der alten Werft ein. Imagination belebt den Ort. Oder ist es eine Täuschung, nur Traum, ein alter Gedanke, wie von den Fischern am Ufer zufällig aus dem Meer gezogen?

Vermutlich gehört alles auch zur Maskerade der Serenissima, das Spiel mit Licht und Schatten, Schmuck und Ornament der Fassaden, das Spiegeln der Gondeln im Wasser, der Zauber bei Regen und Sonnenschein. Plötzlich die riesigen Pferde beim Blick auf die Giudecca. Sind es wirklich nur alte, stählerne Kräne? Auch das Vaporetto ist nicht einfach eine Maschine, sondern ein »Lebewesen, sagt man mir«. Venedig ist ein Geheimnis. Das sich so vielleicht beim Gehen durch diese Stadt leichter erschließt.

Markart macht neugierig auf diese Stadt, auf die kleinen Gassen, die Nebenstrecken. Mit ihm entdeckt man den »kleinen Buckligen« direkt am Rialto, kommt an alten Gondelwerften vorbei, sieht einen schiefen Turm, wunderbare Bauwerke. Jede seiner 27 Touren fängt eine andere Stimmung der Lagunenstadt ein. Die Sirene bei acqua alta lockt Markart und uns aus der Wohnung, Regen und auch Schnee sind kein Grund nicht hinauszugehen. Auf Entdeckungsreise. Zu einem belebten Markt, zu kleinen abgelegenen Plätzen oder an das Ufer der Zattere oder der Kanäle. Er begegnet einsamen Alten, seinen Nachbarn, dem sterbenden Alessandro, der sich ins Ospedale schleppt und wenige Tage später im Sarg mit der Gondel nach San Michele gebracht wird. Das Besondere an Markarts Passeggiate ist sein Grundmetrum. Ein musikalisches Schreiten, ein unaufgeregtes Andante, das Zeit gibt wahrzunehmen, was ist und auch nicht ist. Und immer sind in diese Komposition auch Pausen eingeplant. Pausen im Caffé, in der Bar, wo sich die Alten die Gläser füllen mit »Ombra«. Eine wunderbare Lektüre. Für Reisende und Träumer.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Mike Markart: Venezianische Spaziergänge
Graz: edition keiper 2023
152 Seiten. 21,40 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Mehr zu Mike Markart in TITEL kulturmagazin

1 Comment

  1. genau so habe ich die vergangene Woche Venedig erkunden und genießen können…. einige der Spaziergänge von Mike Markart bin ich in früheren Jahren „nachgegangen“ mittels Knopf im Ohr, da die Spaziergänge im ORF gehört werden konnten…. das Buch habe ich natürlich gleich nach seinem Erscheinen gekauft….. für mich sind es Gute Nacht Geschichten für sogni d’oro (goldene Träume).

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein ausgewachsenes Wunder

Nächster Artikel

Dramatiker und Medienkünstler

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Siebenundvierzig

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Siebenundvierzig

Meine Güte, Farb stöhnte, wie solle man das beschreiben.

Man möchte es nicht glauben, sagte Annika.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.

Da komme einiges zusammen, konstatierte Wette

Farb strich die Sahne auf seinem Kuchen langsam und sorgfältig glatt.

Blutrausch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Blutrausch

Die zivilisierte Welt sei auf dem Rückzug, ultimativ, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yhin Zhen, sie hatte das Drachenservice aufgedeckt, die Temperaturen waren mild.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Ob es nicht stets dasselbe sei, fragte er, die einen würden in Luxus oder wenigstens ohne finanzielle Sorgen leben, die anderen, bei weitem die Mehrheit, seien barbarischen Zuständen ausgeliefert, es würden Kriege geführt, zu Millionen irrten die Menschen auf dem Planeten umher, und wer es sich leisten könne, suche in friedfertigen Regionen unterzukommen.

Er nahm einen Löffel Schlagsahne und strich sie sorgfältig auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

Dialog

TITEL-Texfeld | Wolf Senff: Dialog

Kann sein es ist gar nicht lebensnotwendig, die zehntausend Dinge zu verstehen.

Gut möglich.

Und der Mensch – in der Lage des Tausendfüßlers, der, gefragt, wie er seine zahllosen Beine so tadellos organisiert, nachzudenken beginnt, innehält und aus dem Tritt kommt – strengt sich an, sie zu verstehen, er analysiert, er forscht, und er ist im Begriff, eine Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen.

Denkbar.

Der Grauwal findet sich blind zurecht in den wechselhaften Regionen des Planeten, niemand muß ihm den Weg zu den Lagunen der Baja California weisen, keine Seekarte, kein GPS, und er zieht jedes Jahr zu Tausenden auf seine kräftezehrende Reise nach Süden und kehrt im Spätsommer zurück in den Norden.

Lesen und Leben

Kurzprosa | Arche Literaturkalender 2019 Auch in diesem Jahr vereint der alljährlich erscheinende Literaturkalender des Schweizer Arche Verlags unter dem Motto »Lesen und Leben« alte und neue, illustre und weniger illustre Dichter und Literaten.Von BETTINA GUTIERRÉZ

Endlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Endlich
Ein Planet könne nicht wachsen, sagte Farb, Wachstum, was für ein absurder Gedanke, die Fläche sei begrenzt.

Wo liege das Problem, sagte Belten.

Der Mensch sei das Problem, sagte Farb.

Der Schachspieler nickte.

Sergej und Maurice spielten Backgammon, sie tauschten Scheine, offenbar waren hohe Summen im Spiel, früher Nachmittag, die Hitze hatte leicht nachgelassen.