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Große Mauer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Große Mauer

Diese Lokalität sei hervorragend auf Besucher eingerichtet, lobte Ramses und blickte einem Schatten hinterher, der die Konturen Gramners besaß, und daß dies eine einmalige Gelegenheit sei, sagte er, diese Hinterlassenschaften ruhmreicher fernöstlicher Dynastien kennenzulernen.

Der Flug, fügte er hinzu, sei überaus angenehm gewesen, auch das ein Wunder, er hätte sich nie träumen lassen, daß der menschliche  Körper sich zum Himmel erhebe, nie im Leben, das sei eine vortrefflich inszenierte Illusion.

Einige tausend Kilometer lang, fügte Ramses hinzu, welch erhebendes, eindrucksvolles Bauwerk, er habe sich ausführlich briefen lassen.

Er hatte nun hinreichend gelobt, ein feines Lächeln lag über seinem Antlitz. Es war gut, die Werke der Baumeister zu loben, der Mensch ist so unendlich sensibel, geringste Kritik erschüttere ihn und drohe ihn aus der Bahn zu werfen.

Chinesische Mauer

Das Bauwerk habe militärische Zwecke erfüllt? Das habe ihn überrascht. Nein, er könne das nicht glauben. Sollte sich die Welt so grundlegend gewandelt haben? Die monumentalen Bauten seiner Vorgänger würden den Menschen mit den Göttern verbinden, sie seien im Universum verwurzelt und lägen der Erde lediglich auf.

Den er ansprach, war ein schmächtiger junger Mann aus Prag, ein moderner Verwaltungsbeamter, der eine Fülle von Details recherchiert, Theorien aufgestellt hatte und der nun für sein Leben gern diesen Schauplatz persönlich aufsuchte, zumal in Simatai der Bau in verschiedenen Zuständen erhalten sei. Einzelne Abschnitte waren ähnlich wie in Jianshanling im ursprünglichen Stil erneuert, doch man stieß auch auf nicht restaurierte Abschnitte der Mauer, denen sogar die seitliche Begrenzung fehlte, und es wäre durchaus nicht ungefährlich, sich dort aufzuhalten.

Der junge Verwaltungsbeamte war davon überzeugt, daß die Mauer nach dem Teilbau-Prinzip errichtet wurde, das von den beiden Arbeitsheeren, dem Ost- und dem Westheer, praktiziert worden sei und das er sorgfältig beschrieben habe.

Dabei, erklärte er seinem Gesprächspartner, hatte eine Gruppe von etwa zwanzig Arbeitern eine Mauer von zirka fünfhundert Metern Länge auszuführen, während eine zweite Gruppe, ihnen entgegenkommend, eine Mauer in gleicher Länge errichtete. War die Vereinigung beider Stücke vollzogen, seien die Arbeiter in andere Gegenden deportiert worden. So erkläre sich, daß die Mauer, über den Lauf von Jahrhunderten errichtet, dennoch ein lückenhaftes Werk sei, das sich in zahllose Teilstrecken gliedere.

Interessant, entgegnete Ramses nur und lud den jungen Mann mit sanften Worten ein, sich zu überlegen, wie seine Vorgänger wohl ihre Pyramiden errichtet hätten.

Dieser faßte das als ein Lob auf, er fühlte sich geschmeichelt und lächelte. Die beiden Männer wurden einander sympathisch, sie gingen einige Schritte. Im Licht der Sonne lag die Mauer den fernen Gebirgsketten auf wie ein glänzender Saum, Ramses konnte seine Blicke kaum von der faszinierenden Szenerie lösen. Einzigartig. Von derartig mächtigen Bergen hatte er vom oberen Nil erzählen hören, wo ihm die Nubier stets Probleme bereitet hatten, jedoch mit eigenen Augen hatte er die Regionen des oberen Nil nie gesehen.

Die gegenständliche Welt ist größer als ich dachte, sagte er nur. Nein, auf den Gedanken, einen Schutzwall errichten zu lassen, wäre er nie gekommen, nie im Leben, wohin sollte das führen, bei Lichte betrachtet war das eine absurde Idee.

Ramses II., ein Pharao der neunzehnten Dynastie, sei ein leidenschaftlicher Bauherr gewesen, warf er ein, er habe den berühmten Großen Tempel von Abu Simbel mit den vier mächtigen Statuen errichtet, weil er die Nubier habe einschüchtern und fernhalten wollen. Die überaus kunstvoll gestaltete Nordwand im Inneren des Tempels zeige die Schlacht von Kadesch. Doch er wolle das nicht weiter ausführen, die Schlacht sei verlustreich gewesen und die Erzählung vom glorreichen Sieg Propaganda.

Er selbst sei der elfte der Ramessiden, sagte er, ausgehende zwanzigste Dynastie, es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, er zehre in einem zerfallenden Reich vom Ruhm seiner Vorgänger, was könne er tun, er halte sich gelegentlich einige Tage in entfernten Weltgegenden auf.

Der junge Verwaltungsbeamte nickte. Ägypten sei ihm persönlich unbekannt geblieben, sagte er, doch er habe gelesen, daß die Ramessiden gigantische Leistungen vollbracht hätten, an denen gemessen der einzelne Mensch bedeutungslos sei. Er werde darüber nachdenken.

Ramses lächelte. Der Mensch sei ein Staub im All.

Aus dem zerfallenden Wachtturm vor ihnen trat eine Frau.

Ist es nicht ein überwältigendes Bauwerk?, fragte sie. So wundervoll schwerelos, sagte sie, ein unerreichtes Vorbild für jede Architektur. Auch sie blickte sehnsüchtig zu den fernen Gebirgszügen: Sie werden durch die Mauer gekrönt, finden Sie nicht?

So ist es. Ramses lächelte. Diese Frau gefiel ihm, eine gereifte Person, sie mußte aus dem mittleren Osten stammen, er hatte diverse Frauen dieses Typs kennen gelernt, sie strahlte ungemein viel Selbstbewußtsein aus, er schätzte das. Die Menschen waren anders als zu seiner Zeit und dennoch sehr ähnlich, der Mensch würde ihm ewig ein Rätsel bleiben. Doch die großen Pyramiden standen seit Jahrtausenden unverändert an ihrem Platz, sie waren die Ruhestätten der Pharaonen, sie verkörperten die unwandelbare Ordnung allen Lebens.

Der Mensch sieht das nicht so, wandte jetzt der junge Verwaltungsbeamte ein. Die blonde Frau blickte ihn verwundert an. Der Mensch respektiert den majestätischen Charakter dieser Mauer nicht, wiederholte er.

Der Mensch entfernt sich von diesen Zusammenhängen, fügte er hinzu, er versteht sie nicht, der Zugang zu diesen Geheimnissen geht ihm verloren. Sehen Sie nicht, was für ein infantiles Possenspiel er mit diesen großartigen Hinterlassenschaften veranstaltet?

Sie meinen die Sessellifte, die Seilbahn, das Hotel, all die touristische Infrastruktur, die der Mensch schafft? Ein Event wie den Mauer-Marathon? Dahinter verblasse Ihrer Ansicht nach das Bauwerk?

Sie lachte.

Oh, Sie sprechen mir aus der Seele, sagte sie. Was glauben Sie, wie rücksichtslos meine eigenen Schöpfungen vermarktet werden, um zusätzliche Einnahmen zu erschließen, sagte sie, der Sinn geht verloren, und die Welt ertrinkt und erstickt am Mammon.

Ramses lächelte. Es wird dem Menschen nicht gelingen, seine irdische Herkunft zu verleugnen, mag er noch so prachtvolle Bauten errichten. Ich kenne Ihr Opernhaus in Guangzhou, sagte er, Ihre Absage an hergebrachte Bauweisen illustriert auch das phæno in Wolfsburg. Doch vergessen Sie nicht, Verehrteste – auch die neuen Wege haften am Boden.

Der junge Verwaltungsbeamte war sichtlich amüsiert. Der Mensch verfügt nicht über Flügel, sagte er schmunzelnd, an Zaha Hadid gewandt: Er geht seiner Wege und irrt sich. Der junge Verwaltungsbeamte hielt Hadids neuestes Projekt, ein Museum auf über zweitausend Metern Höhe im Kronplatzgipfel der Dolomiten, für belanglose postmoderne Eventkultur.

Zaha Hadid erwiderte das Lächeln ihrer Gesprächspartner. Meine Bauten verkörpern Bewegung, sagte sie. Sie werden keine Ruhe darin finden, ergänzte sie, keinen rechten Winkel, und von daher werden Sie gewiß meine Bewunderung für diese Große Mauer verstehen, sie ist von unermeßlicher Grazie, sie könnte nicht vollendeter in die natürlichen Gegebenheiten eingebettet sein, sie ist mitten in der Bewegung erstarrt, verstehen Sie, sie bleibt für mich ein unerreichtes Vorbild.

Sie ist der Erde verhaftet, widersprach Ramses heftig. Seine Stimme hatte einen überwältigend tiefen, wärmenden Ton. Zaha Hadid war angetan von deren Charme, den der aufbrausende Ärger nur steigerte.

Nein, fügte Ramses noch hinzu, ein Bauwerk, das nicht im Himmel verwurzelt sei, habe keine Substanz. Er lächelte erneut. Oh, nie im Leben würde er sich so weit herablassen, daß er mit den Menschen auf Augenhöhe wäre.

Erneut wandte er seinen Blick den fernen Gipfeln zu. In großer Höhe zu bauen bedeute keineswegs, sagte er, daß man dem Himmel nahe wäre, der Mensch verliere sich an irreführende Schlußfolgerungen.

Er bemerkte den zweifelnden Blick des jungen Verwaltungsbeamten. Gewiß, fügte er deshalb einschränkend hinzu, die Große Mauer sei ein Profanbau, ein militärisches Bollwerk gar, doch für alle Bauten, welchem Zweck auch immer sie dienten, sei unerläßlich, sie an den Himmel zu binden. Das sei versäumt worden. Ein Ärgernis.

Jedes Zeitalter, oh Pharao, bilde sich ein eigenes Urteil, wandte Zaha Hadid ein. Einst sei die Große Mauer ein bedeutender und möglicherweise militärisch effektiver Schutz gewesen, doch heute nehme man sie als ein unvergleichlich ästhetisches Bauwerk wahr, so würden sich die Zeiten wandeln.

Ramses lächelte nur und irritierte den jungen Verwaltungsbeamten, der einen herablassenden Gestus wahrzunehmen glaubte. Für mich ist an der Zeit, aufzubrechen, sagte Ramses. Es war mir eine Freude, Ihnen hier begegnet zu sein, sagte er, neigte den Kopf geringfügig in Richtung seiner Gesprächspartner und wandte sich der Treppe zu.

Zaha Hadid blickte ihm nach. Wie alt mag der Mann sein?, fragte sie sich und staunte über seine fließenden Bewegungsabläufe, er wirkte androgyn, die lange Treppe schien ihm nicht die geringsten Probleme zu bereiten.

Der junge Verwaltungsbeamte nickte ihr auffordernd zu. Sie gingen ohne weiteren Wortwechsel bis zum nächsten Wehrturm, sie setzten ihre Schritte behutsam und genossen diesen Ort.

| WOLF SENFF

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