Kurzprosa | Éric Vuillard: Ballade vom Abendland
Ist es nicht vielleicht symptomatisch für ein verändertes Geschichtsverständnis, dass wir neuerdings unseren »Nachbarn« die Lehrerrolle zukommen lassen, wenn es heißt, über das letzte Jahrhundert und insbesondere die beiden Weltkriege nachzudenken? So regte der Brite Christopher Clark mit seinen Schlafwandlern eine Diskussion über die Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg an. Es durfte uns – oder besser den Berliner Abgeordneten im Bundestag – der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklären, was die Geschichte der beiden Nachbarvölker unterscheidet. Und nun erzählt uns auch noch der französische Autor Éric Vuillard in seiner Ballade vom Abendland von den Menschen im »Grande Guerre«. Ein »rhapsodischer« Blick auf die Zeit vor 100 Jahren. Eine Buchempfehlung von HUBERT HOLZMANN
Éric Vuillard arbeitet seit Längerem als Schriftsteller und Regisseur. In den letzten Jahren wurde er für seine Erzählungen von historischen Augenblicken mit bedeutenden französischen Literaturpreisen, u.a. dem Franz-Hessel-Preis, ausgezeichnet. Pünktlich zum Gedenken an den Kriegsausbruch vor 100 Jahren legt er mit seiner Ballade vom Abendland ein schmales Bändchen vor, in dem einmal nicht die historischen Fakten im Vordergrund stehen.
Éric Vuillard »malt« in seiner »Ballade« eine Art Rundpanorama der Zeit von 1914 bis 1918. Hierauf zu sehen: nicht allein Waffenröcke, Uniformen, das Grauen der Schützengräben, die Unzahl an Verletzten und Toten, die vielen Einzelschicksale von Soldaten und Zivilisten. In Vuillards »rhapsodischem« Text geht es um mehr: Er zeichnet Stimmungen nach, blickt auf die Herrschenden, den europäischen Hochadel mit seinen Vorlieben und Schwächen, seinen Verkettungen und Beschränktheiten.
»… ein frischer, fröhlicher Krieg.« Wilhelm II.
Zu Beginn der Ballade vom Abendland, der mit »Vorspiele« überschrieben ist, blitzt kurz noch die Farbigkeit der Paradeuniformen auf, werden die Regimenter noch zum Schaulaufen geführt, doch mischt sich hier bereits der Unterton des Untergangs, des Todes hinzu – zunächst noch weniger bedeutungsvoll: »es ist eine seltsame Welt, eine doppelte: zugleich eine sehr alte, eine Welt aus Salpeter und Stockrosen, aus Fächern und schlechten Walzern, aber auch die Welt der ersten Panzer, der Haubitzen, der ersten großen Tötungsmaschinen.«
Vuillard entwirft ebenfalls zunächst die Großwetterlage der Zeit; hier jedoch nicht nur die politische. Er führt uns den herrlichen Frühling 1914 vor Augen, malt beginnendes Glück, einen Aufbruch, der die Spannungen zu verdrängen scheint. »Die Nagelstiche zu ignorieren bedeutete, noch einen Augenblick auf das Plätschern der Marne hören zu dürfen, zu träumen.«
Alles liegt ganz nah zusammen; das persönliche Glück und Leid, die diplomatische Naivität, die zum Krieg führen wird. Und Drohung, Krisen, Aufstände, Unruhen gibt es in diesem Jahr allemal: »Denn schon knistert die Welt, schon haben die Erzherzöge Aufstellung genommen, schon gerät etwas ins Stocken und produziert, was an Granaten und Kanonen gebraucht wird. Der Krieg ist eine Überraschung, die vorbereitet werden will.«
Ériv Vuillard setzt auf seinem Panorama Akzente, teilt seine Erzählung in einzelne Abschnitte ein. Die einzelnen Abschnitte heißen beispielsweise: »Die Welt zu Pferde durchqueren«, »Unseren Schuldigern«, »Sommer«, »Gräben«, »Ernten«. Jedem dieser Teile wird eine historische Schwarz-Weiß-Aufnahme vorangesetzt. Diese Aufnahmen sind Dokumente der Zeit. Beim Durchblättern geben sie die Erzähllinie Vuillards vor, er blättert die »Geschichte« wie in einem Bilderalbum weiter.
Er zeigt: die marschierenden Soldaten, den deutschen Kaiser, den Schützen von Sarajewo, den Blick in die Gesichter der Einberufenen, den Kanonendonner etc. – Vier Jahre des Schreckens, des Leids. Vier Jahre des Wahnsinns, die man eigentlich nicht wirklich erklären kann. Denn alle Strategien, Annahmen und Generalsstabsspiele – der Schlieffen-Plan oder der Plan XVII. auf französischer Seite – verhinderten nicht den mörderischen Stellungskrieg, die mörderischen Schlachten an der Marne, der Somme und bei Ypern.
Ein letztes Tänzchen bitteschön
Das Attentat auf den Thronfolger verändert alles, setzt eine Maschinerie in Gang, die durch Diplomatie nicht mehr aufgehalten werden kann. Vuillard lässt in seiner »Ballade« die Szenerie nachspielen, erzählt von den Träumen und Hoffnungen der einstigen Hofdame von Erzherzogin Isabella, schildert die Not der sieben serbischen Verschwörer. All diese einzelnen Wege führen zusammen, bilden einen Knoten und treffen sich auf der Lateinerbrücke von Sarajewo. Von hier wird es kein zurück mehr geben.
Die erste Kugel wird die Erzherzogin treffen. »Eine zweite Kugel sauste durch die Luft und traf den Hals des Erzherzogs. Er legte die Hand auf die Wunde. Das Wetter war schön, die Bäume waren grün, die Menge war dicht, wohlgesonnen; er wunderte sich… Da wurde es plötzlich eiskalt. Ganz Europa zog sich zusammen wie eine Schnecke im Salz. Doch rasch erhitzen sich manche Gemüter.«
Vuillards Bildersprache ermöglicht etwas, was Geschichtsbücher, Bild- und Tondokumente nicht erreichen. Er greift geschichtliche Momente heraus, setzt sie wie Dominosteine in Bewegung, schafft Verbindungen, blickt zurück in die Jahre vor dem Krieg, zieht Schlüsse. So kann man spüren, wie die Kriegserklärungen im Takt der Verträge verlautbart wurden, wie sich Züge mit begeisterten Menschen in Bewegung setzen, wie dieselben Menschen in den Schützengräben verrecken. Vuillard nimmt den Blick eines Reporters ein. Dann wieder kommentiert er. Berichtet größere Zusammenhänge. Und hält seine Erzählung an entscheidenden Stellen an und schildert in Zeitlupe.
An keiner Stelle geht um die Schuld einzelner Völker. Oder um Schmach, Schande. Auch nicht um Feindschaft. Stattdessen erzählt er in einer ganz eigenen, poetischen Sprache, trifft seinen eigenen besonderen Tonfall: Denn er sieht den Menschen – auf beiden Seiten. Für alle ist es »die gleiche kleine Musik, das gleiche trockene Holz, das man entzweibricht: Voeina, savash, rat, guerre, war – Krieg.« Éric Vuillard schaut mit dem Gestus eines Lyrikers auf die vergangene Zeit zurück und zieht uns mitten hinein – in das Kriegstreiben. Der Totentanz kann beginnen: »Und so schickt man sich Tausende von Einladungen zum Ball. … sie wollen jetzt eine rauschende Gigue tanzen, einen Reigen, einen Liebeswalzer, eine Hornpipe.«
Einfache Vorurteile, platte Mentalitätsgeschichte bleiben bei Vuillard außen vor. Klischees werden aufgegriffen und entzaubert. Er zerstört jede noch so verklärte Rückschau auf den strammen Soldaten, auf die großen Armeen, die Strategen und Generäle. Der Mythos vom Preußen Clausewitz und seiner theoretischen Sicht auf den Krieg gehört spätestens jetzt endgültig der Vergangenheit an. Die Rechnungen gehen nicht auf. Für Vuillard sind Stereotypen wie Schuld, Gegner, »Erbfeind« nicht mehr entscheidend. Die Verantwortung für den Krieg tragen andere: die Mächtigen, die die Kriege nicht verhindern, die durch die mörderischen Verluste nicht zum Umdenken bewegt werden. Ein außergewöhnliches Buch.
Titelangaben
Éric Vuillard: Ballade vom Abendland
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Berlin: Matthes & Seitz 2014
168 Seiten. 19,90 Euro
Reinschauen
| Buchtrailer gelesen von Meike Schlüter