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Ohnmacht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ohnmacht

Sie können sich das nicht erklären, sagte Farb, nein, sie waschen die Hände in Unschuld.

Von wo er komme, fragte Annika.

Exakt, sagte Farb, woher er komme, der Haß, so unerwartet, das frage man sich, so heftig, wer solle das verstehen, es handle sich um einen grundlegenden Klimawandel im sozialen Leben, wie könne das sein, Rettungsdienste würden angegriffen, Feuerwehren in der Arbeit behindert.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Gegenwärtig regiere Fußball, sagte er, man sei bester Stimmung, von Haß keine Rede.
Schön, sagte Farb und strich die Sahne auf seiner Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glatt.

Eine sorgfältig inszenierte internationale Party, sagte Tilman, gute Laune auf hohem Niveau, medial vermittelt, da wolle man sich nicht ans Bein pinkeln lassen, keineswegs, doch der Nahverkehr, so die schottischen und englischen Fans, werde auf die große Zahl Nutzer nicht hinreichend eingestellt, zumal zu den nächtlichen Ansetzungen, die Bahnen seien überfüllt, unzuverlässig, glühend heiß, in Köln sei einmal sogar empfohlen worden, vom Stadion zu Fuß nach Hause zu gehen.

Das sei schlecht organisiert, sagte Farb, die Fans würden viel Geld für ihren Aufenthalt zahlen, die Stimmungslage sei sensibel, nicht jeder könne seinen Ärger zügeln.

Wenn nichts unternommen werde, heiße es seitens der schottischen Association of Tartan Army Clubs ATAC, sei es eine Frage der Zeit, bis etwas passiere, sagte Tilman.

Daß sich der Ärger ein Ventil suche, schon möglich, sagte Annika, doch es komme nicht zu Haßausbrüchen, wandte Annika ein, nicht beim Fußball, und es handle sich offenbar um vereinzelte Pannen.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Tilman warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen und griff nach einem Marmorkeks, sie hatten, seitdem die Preise für Vanille so massiv gestiegen waren, keine Vanillekipferl mehr gekauft, und er wußte nicht, ob sie überhaupt noch im Angebot waren.

Diese Abläufe seien den alltäglichen Abläufen dennoch verblüffend ähnlich, sagte Farb, der öffentliche Nahverkehr sei generell unterversorgt, ob bei der Bundesbahn oder kommunalen Verkehrsbetrieben, verfügbare finanzielle Mittel würden seit Jahren an allen Ecken und Enden fehlen, die mangelhafte Ausstattung werde als ein Zeichen von Geringschätzung empfunden, man fühle sich ohnmächtig und reagiere wutentbrannt.

In Stuttgart, sagte Annika, werde für über zehn Milliarden Euro ein unterirdischer Bahnhof gebaut, dort würden wertvolle Mittel für ein umstrittenes Luxusprojekt verschwendet.

Wut habe sich angestaut, sagte Farb, das sei kein einmaliges Geschehen wie bei der Fußball-Europameisterschaft, sondern man erlebe das Tag für Tag, man rede verächtlich über den Staat, real ändere sich nichts, die Infrastruktur sei marode, und auf der Basis tief empfundener Ohnmacht entstehe das Gefühl von erbittertem Haß.

Sie könne das nachvollziehen, sagte Annika, nein, das wundere sie gar nicht, und schenkte sich Tee ein, Yin Zhen, sie hatten wie immer das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, sie besaßen es auch lindgrün, Tilman hatte es von einem Aufenthalt in Beijing mitgebracht.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Sie wundere lediglich, sagte Annika, daß die Menschen sich so schwer täten, den Haß zu verstehen, denn bekanntlich werde die Infrastruktur seit Jahren vernachlässigt, seit Jahren werde über mangelhafte Ausstattung der Schulen geklagt, über marode Verkehrswege und notwendige Brückenreparaturen, über die unzuverlässige Bundesbahn, über mangelnde Gesundheitspflege, über die prekäre Wohnsituation, und was geschehe: nichts, wundern könne man sich lediglich über die kaltblütige Haltung von Politik und Behörden, offenbar fehle es dort am Druck seitens einer Lobby, die aber eh ihre Privatflieger benutze und ihre Sprößlinge auf Internate einschule.

Tilman nickte, rückte näher an den Couchtisch und bemühte sich, eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Annika griff zu ihrem Reisemagazin.

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