Die 9jährige Dee liebt die Wohnung im 8. Stock eines Hochhauses, wo sie mit ihrer Mutter lebt. Von hier aus hat man wunderbare Ausblicke auf die Wohnungen gegenüber und das Leben dort. Eigentlich könnte ihr Leben in Ordnung sein. Eigentlich. Aber Dee vermutet hinter allem einen großen Irrtum. Von ANDREA WANNER
Die Kleine mit den lockigen Haaren und der dunklen Haut ähnelt ihrer Mutter Esther so gar nicht. Für Dee ist klar, dass sie entweder geraubt oder adoptiert wurde. In Wahrheit gehört sie in ein Schloss mit Swimmingpool oder an sonst einen tollen Ort.
Von ihrem Problem wird sie von etwas anderem abgelenkt: Sie findet einen Brief. Der Empfänger durchgestrichen, der Absender unleserlich – ihr bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu öffnen und zu lesen. Da vermisst jemand eine andere Person. Wer ist das? Mit Vermissen kennt sich Dee aus und das Rätsel um den unzugestellten Brief im hellblauen Umschlag wird zur fixen Idee.
Zum Glück hat sie verlässliche Freunde: Vito mit seinen drei Schwestern, der gebügelte Oberhemden trägt und Kevin, der nach der Trennung seiner Eltern den Vater vermisst. Die beiden, vor allem aber Vito, werden zu Verbündeten. Dee ist äußerst kommunikativ, geht furchtlos auf Menschen zu und kommt mit ihnen ins Gespräch. So sorgt der im Haus gegenüberwohnende Mann, der von seiner Frau verlassen wurde, für eine professionelle Untersuchung des Briefs nach Fingerabdrücken. Sie redet mit einer jungen Frau, die eine kurze Karriere als Sängerin hinter sich hat und jetzt wieder an der Kasse im Drogeriemarkt sitzt. Sie hört sich die Geschichte ihres Sportlehrers Mo an, der von seiner Verfolgung in der Heimat und Flucht berichtet. Sie lauscht den Geschichten des Briefträgers Bilal und erfährt von der betagten Elli, der sie gelegentlich Essen bringt, Neues über ihre eigene Herkunft.
Achtsam geht sie mit dem Gehörten um und merkt, dass viele Menschen jemanden vermissen und auf eine Nachricht warten. Schrittweise kommt sie der Lösung des Rätsels näher, das mehr mit ihr selbst zu tun hat, als sie je ahnte.
Im vergangenen Jahr erschien ›Dieser Sommer mit Jente‹ der niederländischen Autorin Enne Koens. Erneut zeigt sie viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen bei der Beschreibung ihrer Figuren, deren Tun so wunderbar selbstverständlich wirkt. Dees Grübeln über ihre Herkunft, das in der Frage mündet »Wer bin ich überhaupt?« wird nachvollziehbar und empathisch geschildert. Die zarten Vignetten von Maartje Kuiper, die Fensterszenen zeigen, runden die ausschnittartigen Einblicke in das Leben ganz unterschiedlicher Menschen aus der Sicht einer Neunjährigen perfekt ab. Die junge Heldin mit ihren vielen Fragen und ihrer aufmerksamen Art ihrer Umwelt gegenüber schließt man beim Lesen schnell ins Herz. Und dass ihre Ausdauer belohnt wird, macht das Buch zu einem herzerwärmenden Leseglück.
Titelangaben
Enne Koens: Von hier aus kann man die ganze Welt sehen
(Vanaf hier kun je de hele wereld zien, 2021)
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Mit Bildern von Maartje Kuiper
Hildesheim: Gerstenberg 2024
208 Seiten, 17 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
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