Der moderne Mensch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Der moderne Mensch

Sie wissen null, sagte Gramner, und lügen sich in die Tasche.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Von der Moderne und ihren Wissenschaftlern, antwortete Pirelli.

Von den Seuchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ergänzte Mahorner.

Der Mensch habe keine Ahnung, fragte Bildoon.

Er laufe davon und gebe es nicht zu, sagte Thursday, die Angst zehre ihn auf, er verstecke sich, er bete darum, verschont zu bleiben und daß die Seuche ein Ende nehme.

Die Situation sei beispiellos, sagte Pirelli, er setze sich eine Maske auf, damit er gegen die Luft, die er atme, geschützt sei.

Interessant, wiederholte LaBelle.

Absurd, sagte Sanctus.

Die Welt habe sich grundlegend verändert, sagte Pirelli, sogar das Wasser müsse er filtern, bevor er es trinke, und niemand nehme wahr, daß sich das Leben, das uns über Jahrtausende begleitet habe, zurückziehe.

Der Mensch habe die Welt grundlegend verändert, korrigierte Mahorner, und zwar weder zu seinem eigenen Vorteil noch zum Vorteil des Planeten.

Die Epoche, die sich selbstherrlich Moderne nenne, sagte Gramner, ruiniere den Planeten, er werde für den Menschen unbewohnbar.

Wieso sei Gramner unbeschwert, während er seine schaurigen Botschaften überbringe, fragte der Ausguck.

Geduld, sagte Thimbleman.

Der Mensch pflege den Hochleistungsgedanken, überall treibe er sich zu höchster Leistung an, von der Fleischproduktion bis zur Raumfahrttechnik, sagte Gramner, nun aber werde er, das hätte er sich wahrlich nicht träumen lassen, von den Hochleistungen der Natur eingeholt, den Feuersbrünsten von Australien bis nach Sibirien und Kalifornien, den verheerenden Orkanen, den Tsunamis, und nirgends ein Ausweg, keine Chance zu entkommen. Seine Nukleartechnologie, einst von ihm als Hochleistung angepriesen, schlage auf ihn selbst zurück, auf den Marshall-Inseln kündige sich ein Desaster an, die Einfalt des Menschen sei grenzenlos und ohne Ende.

Er habe das sich selbst zuzuschreiben, fragte der Ausguck.

Er habe es sich selbst zuzuschreiben, sagte Pirelli, er brüste sich mit seinen technologischen Revolutionen, zuletzt mit der digitalen Kommunikation, doch sie sei ein Elend, unkontrolliert, die triumphalistischen Meldungen würden keiner nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung standhalten, er sei ein Bauernfänger, ein Prahlhans, ein Scharlatan, angetrieben von seiner unersättlichen Gier nach Mammon, die ihm über kurz oder lang das Genick breche.

Nein, fügte er hinzu, man müsse endlich auch aufhören, von Naturkatastrophen zu reden – die Katastrophe, das sei allein der Mensch.

Eine erbärmliche Zukunft, sagte der Ausguck, darüber könne man depressiv werden.

Das sei ein kluger Gedanke, sagte Gramner, denn der Mensch der Moderne verschließe die Augen vor den Abläufen, er nehme sie nicht wahr, seine Weigerung sei zwanghaft, er propagiere ein gutgelauntes Leben, er suche Optimismus zu verbreiten, und in den Metropolen greife ein großbürgerliches und gar feudales Lebensgefühl um sich wie aus der Mottenkiste, sagte Gramner, eine schillernde Seifenblase, Luftschlösser nur, ein lächerlich nostalgisches Sehnen, der Mensch der Moderne betrachte die Welt durch eine rosarote Brille, und, sagte Gramner und ließ eine Pause eintreten, die Depression, die er habe vertreiben wollen, sie dringe nunmehr als ein schwer lastender Nebel in die Welt, unheilschwanger, und tränke die Seelen der Menschen, unerklärlich, in den seltensten Fällen therapierbar, und, fügte er hinzu, je heftiger der Mensch sich zur Wehr setze, desto vernichtender, desto lustvoller erblühe das Gift in den Seelen.

Der Ausguck ertrug es nicht länger, er war blaß geworden, lief zum Strand und schlug einen Salto.

Thimbleman ging zur Lagune und schwamm einige Züge.

Interessant, wiederholte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Lure Of The Soundtrack

Nächster Artikel

Keine Traumwelt

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Walfang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Walfang

Wir kennen überzeugende Beispiele für erfolgreichen Rückbau.

Das wäre?

Die Historie des industriellen Walfangs.

Du redest nicht über Scammons Walfänger in der Ojo de Liebre?

Nein, Susanne, sie sitzen in ihrer Lagune, zeitlich und örtlich in weiter Ferne, es fällt ihnen leicht, über unsere Gegenwart zu reden, sie sind nicht in das aktuelle Geschehen verstrickt, ihre Existenz ist nicht durch die klimatischen Veränderungen gefährdet, und ihre Erzählung klingt, wie wenn wir über Vergangenheit reden.

Anm. Seite 13

TITEL- Textfeld | Wolf Senff: Anm. Seite 13

Ach Stellvertreter! Die Abläufe müssen überschaubar sein, verstehst du, überschaubar, nicht überladen. Nein, du verstehst nichts, du kannst nichts verstehen, du hast nie Liu Xies Schrift über den literarischen Geist und das Schnitzen von Drachen gelesen, nicht wahr, in der er sich über kosmische Ordnung äußert und über den Atem der Literatur. Daß Liu Xie vor eintausendfünfhundert Jahren lebte, ein Zeitgenosse des hochgeehrten Hui-neng, das soll dir das Lesen nicht verleiden: Laß dir Zeit, Stellvertreter Erbsenzähler, laß dir viel Zeit, ddd, Schlaumeier, du wirst sie brauchen.

Leben und Mythos

Kurzprosa | Kenzaburô Ôe: Licht scheint auf mein Dach »Ich muss zugeben, dass wir manchmal, besonders ich, die Wut über unseren behinderten Sohn nicht unterdrücken konnten«, heißt es im schonungslos offenen, autobiografischen Band ›Das Licht scheint auf mein Dach‹ (2014) aus der Feder des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe. Er beschreibt darin, wie die Geburt seines Sohnes Hikari sein Leben veränderte, wie er gemeinsam mit seiner Frau vor der schwierigen Frage stand, einer komplizierten Kopfoperation zuzustimmen. Heute ist Hikari Oe über 50 Jahre alt und in Japan ein angesehener Komponist klassischer Musik. Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe am 31. Januar

straßbesetzt

Kurzgeschichte | Jürgen Landt: straßbesetzt angela merkel hatte sich in mich verliebt. der wahlkampf war schon zu ende. dennoch standen genügend öffentliche auftritte an. manchmal hielt ich mich etwas abseits, oftmals war ich direkt an ihrer seite. oftmals trug ich mein langes gelichtetes weißes haar mit einer klammer zusammengekniffen, manchmal ließ ich es einfach offen hängen.

Kulturrevolutionen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolutionen

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war ungeduldig. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Einstieg zum alten Ägypten?