Lite Ratur | Wolf Senff: Landschaft
Er arbeite, sagte er, und wolle nicht gestört werden, sagte er, er arbeite an der Landschaft seines Lebens, ja, das Leben sei eine Landschaft. Die Farben, sagte er, sie würden ihm noch nicht gefallen, doch die Farben seien nun wirklich das schwierigste Kapitel.
Er neige dazu, sich stets die kompliziertesten Dinge aufzubürden, sagte er, verstehen Sie, es sei ein Kreuz, die Farben seien überhaupt erst später an der Reihe, es gehe zuerst um die Höhen und Tiefen, um ihren Ausgleich, die geschmeidigen Übergänge, um die Beschaffenheit des Bodens, der Wege, das bloße Felsgestein, die Brüche, um die Vielfalt und um die Einsicht, dass man überfordert sei.
Er müsse sich, fügte er hinzu, daran gewöhnen, dass das Leben eine Landschaft sei, verstehen Sie, sagte er, der Gedanke sei irritierend. Nein, es gehe nicht darum, dem einen oder anderen Weg zu folgen, keineswegs, genauso wenig existiere ein falscher Weg oder ein richtiger, von diesen irreführenden Vorstellungen müsse er sich lösen, verstehen Sie, sagte er, die Aufgabe sei überwältigend, ein Leben reiche oft nicht aus, die Landschaft bleibe Stückwerk.
Nein, sagte er, Sie verstehen nicht, sagte er, ich seh’s Ihnen doch an. Es sei grundfalsch, ein kompletter Irrtum, das Leben zählend zu ordnen, die Jubiläen zu feiern und Jahr um Jahr vergehen zu lassen, ach die Bilder von Reife und Verfall, von Wachsen und Verdorren – eine Irrlehre, Lug und Trug, nichts sonst, wer denke sich so etwas aus. Kindergeburtstag, fügte er hinzu.
Das Leben sei eine Landschaft. Er schwieg. Eine Landschaft bilde sich heraus, verstehen Sie, wie könne er sich verständlich machen. Als ob dichte Nebel sich auflösten und eine Landschaft nähme nach und nach Konturen an. Sie sei nicht endgültig vorhanden, nie sei sie endgültig vorhanden, so wie ja das Leben nicht endgültig vorhanden sei.
Wir müssen uns an eine erneuerte Idee vom Leben gewöhnen, verstehen Sie, sagte er, dass es formbar sei, eine Landschaft, die entdeckt werden wolle, und indes sie entdeckt werde, bilde sie sich heraus.
Abgründe? Gewiss, ja, Abgründe, Höhen wie Tiefen, sagte er, er habe das erwähnt. Weite Meere, sagte er, endlose Wüsten, undurchdringliche Wälder, alles sei gegenwärtig, reißende Ströme, mächtige Gebirgszüge, wärmende Strände, auch Pflanzen, auch Früchte, Lebewesen.
Nein, nein, er hob warnend die Hand, es gehe nicht darum, sich zurechtzufinden, verstehen Sie mich richtig, sagte er, keine Pläne, sagte er, keine Wegweiser, sondern es gehe darum, sich in dieser Landschaft aufzuhalten, die sich nach und nach offenbare, Teil dieser Landschaft zu sein, das, verstehen Sie bitte den Unterschied, sagte er, sei die Idee des Lebens, er lachte.
Wir hätten darauf keinen Einfluss, sagte er, die Dinge lägen nicht in unserem Ermessen, unsere vermeintlich gestaltende Kraft sei ein Irrwitz, eine Täuschung, sie liege außer uns, verstehen Sie, sagte er, unsere Stimme werde gar nicht wahrgenommen, unsere neunmalklugen Ratschläge verwehten im Wind, darauf komme es nicht an, wer gäbe darauf einen Pfifferling, das Eingreifen des Menschen sei unnütz, entbehrlich, schädlich.
Schemenhaft nur, sagte er, hebe sich die Landschaft aus den Nebeln, schon das sei ein unschätzbarer Gewinn, sagte er. Je genauer du dem Geschehen folgst, sagte er, desto klarer träten die Konturen hervor, graziöse Schönheit, vielfältige Eleganz, wir hätten das seit undenkbaren Zeiten geahnt, so trete von außen die Landschaft an dich heran, dein Leben.