Gesellschaft | Simon Tormey: Vom Ende der repräsentativen Politik
Der Australier wird allgemein geschätzt ob seiner unbekümmerten Gradlinigkeit und für seinen gesunden Pragmatismus, während wir dem Deutschen nachsagen, dass er bevorzugt grüble. Simon Tormey lehrt an der Universität Sydney, der Titel seiner Publikation hat einen grüblerischen Unterton. Von WOLF SENFF
Tormey nimmt zunächst einmal die Politikverdrossenheit, den Rückzug des Bürgers, den Niedergang politischer Parteien zur Kenntnis sowie die Befürchtung, dass Politik nicht mehr imstande sei, Menschen zu inspirieren, zu engagieren und zum Handeln zu veranlassen.
Charme und Strahlkraft
Er klagt nicht, sondern nimmt das als Faktum, als Ausgangspunkt seiner Überlegungen und ordnet das in den größeren Zusammenhang des grundlegenden Wandels von der industriell geprägten zur Dienstleistungsgesellschaft; dadurch sei das Narrativ der Klassengesellschaft zurückgedrängt worden zugunsten des individualisiert handelnden Bürgers, wir kennen das: selbstbestimmtes Handeln, frei von Zwängen usw. usf., diese Denkweise führt üblicherweise direkt ins neoliberale Lager, wo staatliche Vorsorge und Fürsorge ersetzt wird durch ein lakonisches »Hilf dir selbst«.
Doch diese Abzweigung ist für Tormey kein Thema. Er will wissen, wie sich der tiefgreifende soziale Wandel auf die repräsentative Politik auswirkt, also auf die Delegation politischer Aufgaben und Interessen an Abgeordnete und die von diesen gewählten Vertreter, und nimmt wahr, dass es in der repräsentativen Politik nicht mehr um Ideologien oder kontroverse Parteiprogramme gehe, sondern vorwiegend um Charme und Strahlkraft der Protagonisten.
»Antirepräsentativ«
Die herkömmliche repräsentative Politik werde jedoch verdrängt durch einen unmittelbaren, autonomen Politikstil, wie er durch Demonstrationen, Proteste, soziale Bewegungen zum Ausdruck komme, und die sozialen Medien, so zweischneidig sie seien, würden diesen neuen, ereignisbasierten Aktivismus stützen, gewissermaßen helfen, diese neue »partizipative Dynamik« in Gang zu setzen.
Folglich entstünden Parteien neuen Typs wie die ›Piraten‹ oder in Italien die Fünf-Sterne-Bewegung ›M5S‹ von Beppe Grillo, kurzfristig höchst erfolgreich, in Spanien ›Podemos‹ oder die Bewegung ›15-M‹, in Griechenland ›Syriza‹, die sich als politische Außenseiter stilisieren und auch als Parteien mit begrenzten Geltungsansprüchen auftreten, »antirepräsentativ«, in gleicher Weise bildeten sich etwa NGOs als Machtzentren aus, die gelegentlich mit Staaten konkurrieren.
Internetbasierte Aktivisten
Nicht zuletzt die Globalisierung habe den Nationalstaat als Machtzentrum geschwächt und große Konzerne, Netzwerke, globale Medien, Finanzmärkte als konkurrierende Träger von Macht und Autorität hervorgebracht. Darin sieht Tormey jedoch keinesfalls einen Verfall von Demokratie, im Gegenteil, in all den dargestellten Bewegungen beobachtet er das Entstehen einer postrepräsentativen Politik.
Die digitale Kommunikation verhelfe rasend schnell zu »Resonanz«, so dass Kampagnen zielgerichtet und erfolgreich sein können, das Meinungsklima sei ein überaus subtiles Phänomen, was sich in den Massenmobilisierungen in Spanien oder der Türkei bewiesen habe. Tormey sieht eine »Phase des internetbasierten Bürgeraktivismus« auf uns zu kommen: »Bürger engagieren sich aus eigener Kraft, beteiligen sich und werden selbständige Akteure, anstatt sich auf Organisationen zu verlassen«.
Deutungshoheit
Er sieht eine Phase der Transformation der parteienbasierten Demokratie, wobei unklar sei, worauf es hinauslaufe. Neoliberale Politik lasse das Machtmonopol des Staates bröckeln. Doch auch das sei kein Nachteil, denn »eine unberechenbare, laute und widerspenstige Demokratie« sowie »eine lärmende, zügellose Politik« sei eine Chance, eine Wiedererweckung aus dem »durch die Eliten herbeigeführten Schlummer«. Der Bürger, sagt er, fordere die Deutungshoheit über Politik von den Eliten zurück.
Tolmey wehrt sich, Stichwort Niedergang der Sozialdemokratie, gegen Nostalgie und wirft »diversen Experten«, zu denen er Badiou und Zizek zählt, vor, sie würden Versäumnisse der Linken beklagen. Tolmey erkennt hingegen eine neue Phase der politischen Mobilisierung, die es zu stärken gelte und die zu einer neuen Qualität von Demokratie führen kann.
Es ist faszinierend, wie unbekümmert und gradlinig er die traditionellen Klippen der Diskurse – Rolle des Staates, Machtfrage, Neoliberalismus, Klimakollaps etc. – umschifft und höchst zielsicher sein Thema aufblättert und überzeugend abarbeitet.
Titelangaben
Simon Tormey: Vom Ende der repräsentativen Politik. (The End of Representative Politics, Cambridge, UK, 2015, übersetzt von Sonja Schuhmacher und Bernhard Jendricke)
Hamburg: Hamburger Edition 2015
230 Seiten, 28 Euro
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