/

Free Jazz & Free Space & Impro

Musik | ›Celebrate Ornette‹

Legende des Free Jazz, Harmolodics-Erfinder und Extrem-Ästhet Ornette Coleman lebt seit dem 11.06.15 nicht mehr. Er wurde 85 Jahre alt. Ergänzend zu seinem umfangreichen Œuvre gibt es in memoriam aktuell die Edition Box ›Celebrate Ornette‹. TINA KAROLINA STAUNER erinnert sich an eine seiner Shows der vergangenen Jahre und ihre Begegnung mit ihm beim Jazzfestival Saalfelden 2009.

colemanBlau überspannt den sommerwarmen Bergort. Im Congresshaus, das schickes Festvalzentrum darstellt, verbringe ich Zeit fast wie chillend, relaxt in musikalische Sets mit zumeist eher Feinnervigem hineinhörend. Zwischendurch unterhalten wir Journalisten uns mit den Musikern auf dem Balkon der Lounge Ich stimme mich dabei gedanklich ein auf den Festival-Mainact: Ornette Coleman.

Coleman, der 1960 mit der Veröffentlichung von ›Free Jazz‹ als Neuerer auftrat, startet seinen Auftritt zum Festvalabschluss fast lyrisch, sentimental. Wechselt im ersten Stück zwischen Saxophon und Trompete. Später auch einmal zur Violine, neben der ein Bass gespielt wird wie in einer Cellosuite. Im lilafarbenen, feinrotgestreiften Anzug und schwarzen Basthut, ist der schmächtige, fast 80-jährige Mann, lebende Autorität des Free Jazz, im Zentrum der Bühne und koordiniert ein Spiel, das in seine gesamte Werkgeschichte und sein antiautoritäres Musiksysthem Harmolodics führt. Mit ihm in der Formation die Bassisten Anthony Falanga und Al McDowell und sein 53-jähriger Sohn Denardo Coleman am Schlagzeug. Ein Quartett. Coleman arbeitet damit an sein Original Quartet der 60er Jahre zu erinnern, genauso aber auch die Zeit von Prime Time anzudeuten und begibt sich natürlich ebenso in sein jüngstes Material. Die Übergänge sind wie fließend.

ornettecolemanDas harmolodische Gedankengebäude besteht im Grunde von Anfang an in Colemans Arbeit, auch schon im Original Quartet, wurde aber erst etwa 1972 zu Prime Time theoretisch mit Worten artikuliert und diskutiert. Der Grundgedanke ist eine Synthese aus »harmony«, »movement« und »melody« bzw. »melodic«, daraus entsteht die Formel »harmolodics« als ein offenes Spiel. Bei dem die Improvisation Form schafft. Auch in Saalfelden ist Harmolodics ein sich stets veränderndes Klangbild. Immer wieder werden in diesem Ineinandergehen von Soundflächen und Soundlinien auch Motivkürzel eingefügt, die betont oft wiederholt werden. Selbst Denardo Colemans Schlagzeugarbeit ist davon geprägt. Coleman und seine Mitmusiker können einfühlend zurückhaltend sein, genauso wie härtest strukturierend und vorwärtstreibend sich verhalten. Coleman verlangt vom Musiker wie vom Zuhörer extreme Hörfähigkeit, Bereitschaft zu besonderem musikalischen Denken. Wobei das Ganze mittlerweile etwas gezähmt wirkt, da nicht mehr neu, nicht mehr alternativ, längst den Hörgewohnheiten vieler vertraut. Aber an Ausstrahlungskraft hat der Charismatiker aus Fort Worth Texas nichts eingebüßt. Sicher hat sich sein Spiel etwas verändert. Weniger Widerspenstigkeit, sondern eine unglaubliche Wärme geht nun des öfteren davon aus. Auch im Dissonanten, Atonalen.

https://www.youtube.com/watch?v=70CrJybUsXI

Coleman soll ja Kreativität und Harmolodics als soziale Botschaft bezeichnet haben, von Beginn an als Visionär von Weltverbesserung gesprochen haben. »Harmolodic meint nicht nur Musik. Sie existiert auch im menschlichen Körper, in dem Sinne, wie das Nervensystem mit dem Wissen korreliert. Es ist ein Weg wahrzunehmen, wie alles auf alles einwirkt.«, so Coleman.

Coleman zeigt sich nach dem Konzert kommunikativ in der Lounge. Und ich interviewe ihn spontan mit ein paar Fragen über Harmolodics: Harmolodics, zeitlos, ständig in Wandlung begriffen, ist eine musikalische Philosophie. Mit Potential, das eine Weltphilosophie birgt. Vielleicht wie der CD-Titel ›Sound Grammar‹ von 2006 sagt eine Art Grammatik dafür. Für ein musikphilosophisches Programm als Entwurf zu herrschaftsfreiem Diskurs, und Kollektivität.
Pledge Music veröffentlicht nun ›Celebrate Ornette‹ – ein 1.500 Exemplare umfassendes Deluxe Limited Edition Box Set mit 3 CD’s, 2 DVD’s, 4 Vinyl (180g.).

| TINA KAROLINA STAUNER
| Abbildungen: © Pledge Music

Titelangaben
›Celebrate Ornette‹
(Pledge Music)
267 Euro

Reinschauen
| Niklas Wilson: ›Ornette Coleman – Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten‹

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays aren’t over…

Nächster Artikel

Neue Demokratie

Weitere Artikel der Kategorie »Platte«

Folkdays aren’t over… norwegische Impressionen

Musik | Annbjørg Lien: ›Drifting like a bird‹ Annbjørg Lien ist eine norwegische Sängerin, die als Musikerin Hardanger Fiddle und Nyckelharpa spielt, eine Fiddle die auch Tasten hat. Lien verwendet neue und alte Instrumente und weist auf den Musikinstrumentenbauer Olav G. Helland aus Bø in Telemark hin, der 1898 eine ihrer Nyckelharpas herstellte. Von TINA KAROLINA STAUNER

Folkdays… Strong and fragile at the same time

Musik | Randi Tytingvåg: Roots & Wings Eine markante Folk-Frau ist Randi Tytingvåg aus Stavanger. Sie hat ihre musikalischen Wurzeln zwar im norwegischen Folk und in Jazzmusik, stellt aber derzeit sehr amerikanesque eine Geschichtenerzählerin mit eigensinnig klingender akustischer Gitarre und starker Stimme dar. Eine Momentaufnahme von TINA KAROLINA STAUNER

Die elektronische Stadt

Musik | ›ELECTRI_CITY D-Dorf‹ – Der Auftakt: ›Autobahn‹ von Kraftwerk… Wir waren verdammt nah bei Michael Rother angelangt. Wir hätten bloß eine Rothercassette in den Autocassettenrekorder stecken müssen. Nehmen wir ›Flammende Herzen‹. Einfach fahren! Das Gefühl, unterwegs zu sein, genügte. Von TINA KAROLINA STAUNER

We Aren’t Strangers No More: 2016’s Albums Of The Year.

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world Don’t hate me for this, but I thought Lemonade by Beyonce was a bit shit! I know that most »taste makers« raved about it in their end of year Best Of lists, declaring it a work of Godlike genius. Yet, somehow, the overproduced pop on offer left me a little cold. Perhaps it’s just me, but the whims of a multi-millionaire pop star just didn’t resonate. By JOHN BITTLES

Little Indie-Core Ride

Musik | Energie und Zauberformeln in Songs und Poetry »…two made one by music, bodied edge gone up into air, aura, atmosphere the garment we wore. We were on a ship’s deck dancing, drawn in a dream…« (›On Antiphon Island‹, Mackey)