32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden für mehr Toleranz

Jugendbuch | David Levithan: Two Boys Kissing

Wie lange dauert ein Kuss? Das kann je nach Anlass wohl sehr unterschiedlich sein. In David Leviathans jüngstem Roman werden wir Zeugen eines ungewöhnlichen Kusses mit ungewöhnlicher Dauer. Von ANDREA WANNER

2boyskissingCraig und Harry wollen ein Zeichen für alle Schwulen setzen in Form eines öffentlichen Kusses, der den bisherigen Rekord im Langzeitküssen einstellen soll. Dazu dürfen sich ihre Lippen 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden nicht voneinander trennen. Das bedeutet 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden im Stehen auszuharren, Flüssigkeitszufuhr nur über einen Strohhalm, der gerade zwischen die Lippen geschoben werden kann. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden im Rampenlicht einer größer werdenden Öffentlichkeit. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden ohne die Möglichkeit, zur Toilette zu gehen. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden dem anderen näher las jemals zuvor – obwohl die Beziehung von Harry und Craig bereits beendete ist. 32 Stunden, 12 Minuten und 10 Sekunden nicht privates Glück, sondern ein öffentliches Bekenntnis zum Schwulsein. Durchdacht, vorbereitet. Eine Aktion, bei der zwei junge Männer an ihre Grenzen gehen und darüber hinaus. Ein Zeichen, das bewegt, aufrüttelt, Solidarität und Abscheu bei denen weckt, die davon erfahren oder gar Zeugen dieses Kusses werden.

Leviathan ließ sich vom längsten Kuss der Welt inspirieren, der vom 18. September 2010 bis 19. September 2010 in New Jersey zwischen »Matty« und »Bobby« stattfand und mit 33 Stunden ins Guinness-Buch der Rekorde einging. Aber der Kuss zwischen Craig und Harry ist eben doch viel mehr. Berichtet wird aus ungewöhnlicher Sicht: ein Chor aus Stimmen, die Menschen gehören, die unter ihrer Homosexualität gelitten haben, unter dem Zwang, sich aus Angst und Scham verstecken zu müssen; die an Aids gestorben sind. Diesem Chor kommt eine Funktion zu wie im antiken Drama, was Schiller anschaulich formulierte: »Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen.« Diese Stimme ist ungewöhnlich, beim Lesen zu Beginn irritierend. Aber Seite um Seite gewöhnt man sich an den Beobachter und Kommentator, der seinen Blick nicht nur auf Craig und Harry wirft, sondern auf insgesamt sieben junge Schwule.

Ryan und Avery haben sich gerade erst kennengelernt, auf einem Schwulenball. Avery hat pinkfarbene Haare und »wurde als Junge geboren, in dem die übrige Welt ein Mädchen sah.« Jetzt ist er dabei, die Welt als Junge auszuloten, zu schauen, was aus der Begegnung mit Ryan werden kann. Neil und Peter leben ihre Beziehung schon länger, sind ein eingespieltes Paar – mit Höhen und Tiefen, wohingegen Craig und Harry, die beiden Langzeitküsser, ihre Zeit als Paar bereits hinter sich haben. Und dann gibt es noch Cooper, der im Internet nach Partnern sucht, verzweifelt, gedemütigt und mit seiner Rolle als Schwuler zutiefst unglücklich.

Sieben junge Männer, die stellvertretend für all die anderen stehen. Unterschiedliche Perspektiven, Wünsche, Träume, Ängste, Erfahrungen und Hoffnungen, kommentiert und begleitet von den Stimmen aus dem Jenseits.

David Levithan wählt eine ungewöhnliche Art des Erzählens. Man muss sich darauf einlassen, um das Exemplarische zu verstehen, eben nicht nur auf die Einzelschicksale zu schauen. Für ein Jugendbuch ist das ein mutiges Experiment, das gelingt. Intim und berührend, wobei die Würde aller Figuren, die in dieser Geschichte auftauchen, auf eine besondere Art gewahrt wird. Das 2013 in den USA erschienene Original zeigt tatsächlich zwei küssende Jungs auf dem Cover. Um wie viel subtiler ist die Variante, für die der Fischer Verlag sich entschieden hat: Auf dunklem Grund sind etwas heller und glänzender Piktogramme zu entdecken, die Paare zeigen: eine weibliche Figur neben einer männlichen. Unterbrochen wird diese Reihung von Paaren durch bunte Paare: orange, lila, blau, grün, pink, gelb und türkis leuchten auf der Vorder- und Rückseite des Buchumschlages Paare, die jeweils aus zwei männlichen Figuren bestehen.

In einer pluralistischen Gesellschaft prallen unterschiedliche Lebensentwürfe und Moralvorstellungen aufeinander, dabei erfordert der Respekt vor der Freiheit des Andersdenkenden vor allem Toleranz. Zwei Jungs, die sich küssen: Das sollte niemanden stören. Und vielleicht kann ein Weltrekord im Langzeitküssen seinen Teil dazu beitragen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
David Levithan: Two Boys Kissing
(Two Boys Kissing, 2015) Aus dem Amerikanischen von Martina Tichy
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag
286 Seiten, 14,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von echten Männern und dem wilden Meer

Nächster Artikel

Überall Zerrissenheit

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Stumm, aber nicht sprachlos

Jugendbuch | Christian Duda: Gar nichts von allem Manchmal wollen Wörter einfach nicht über die Lippen kommen. Obwohl es etwas zu sagen gibt. Was tun? Man kann sie aufschreiben. Das macht Magdi in Christian Dudas neuem Jugendbuch und verändert nicht nur seinen Blick auf die Dinge. Von MAGALI HEISSLER

Keine schöne Geschichte

Jugendbuch | Margo Lanagan: Ligas Welt Das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot gehört zu den bekanntesten aus der Sammlung von Jakob und Wilhelm Grimm. Was gibt es Freundlicheres als die beiden Schwestern, die sich innig lieben, wilde Tiere zähmen, auch zu bösen Zwergen gut sind? Am Ende bekommen sie verdientermaßen ihre Prinzen. Margo Lanagan hat für ›Ligas Welt‹ das Innerste des Märchens nach außen gekehrt und erzählt keine schöne Geschichte. Von MAGALI HEISSLER

Für immer und ewig?

Jugendbuch | Ashley Herring Blake: Eine Handvoll Lila »Für immer und ewig« klingt nach großer Liebe, inniger Gemeinschaft und untrennbarer Verbundenheit. Ein hohes Ideal, das für die beiden Verbundenen im Alltag schnell zur Belastung werden kann. In diesem Fall für eine Tochter und ihre Mutter. Überraschende Grundidee, überraschende Geschichte. Von MAGALI HEIẞLER

Ein alter Lehrer und die Protokolle der 10b

Jugendbuch | Tamara Bach: Sankt Irgendwas

Eine Klassenfahrt zum Abschluss des Schuljahrs, in den Süden. Was kann da schon schiefgehen? Leider alles. Denn Herr Utz ist alt und konservativ, seine Pädagogik besteht vor allem aus Verboten, Vorschriften und Strafen. Das geht eine Weile gut, dann immer weniger. Bis es zum großen Knall kommt. Von GEORG PATZER

»Möge ihr Frausein sie immer stolz machen«(*)

Jugendbuch | Roberta Marasco: Alles ganz normal

(*Widmung von Roberta Marasco für Maria). Ein bisschen überrascht ist frau schon darüber, dass es heute noch so ein Buch braucht. Wie kann ein natürlicher, körperlicher Vorgang etwas Verbotenes sein? Aber wenn dem tatsächlich so ist, dann ist dieses Jugendbuch vielleicht genau das richtige, findet ANDREA WANNER