Same procedure as every year?

Literaturkalender 2017

2016 geht langsam zur Neige, doch zu den stimmungsvollen Ritualen des ausgehenden Jahres gehört das Stöbern und Sichten, Kaufen und Verschenken neuer Kalender. Besonders hoffnungsfroh gestaltet sich der Ausblick auf die kommenden Monate mit ausgewählten Literaturhäppchen und poetischen Gedichtzeilen.Von INGEBORG JAISER

aufbau-literaturPaukenschlag und Trommelwirbel: der traditionsälteste Literaturkalender feiert sein 50. Dienstjubiläum!

Obwohl schon ein halbes Jahrhundert im Amt, wirkt der Klassiker zeitlos modern, wurde im Laufe der Jahre behutsam aufgefrischt und geliftet.

Jubiläumsausgabe

So beglückt uns der Literaturkalender 2017 des Aufbau Verlages Woche und Woche erneut mit einem Autorenporträt, biographischen Notizen und einem Romanauszug oder Gedicht. Wie inspirierend und überraschend beides doch sein kann: die verschlungenen Wirren und Wendungen sowohl im Leben eines Autors, als auch in seinem literarischen Werk.

Ginsberg, Glavinic oder Garcia Marquez kommen hier ebenso zu Wort wie die Japanerin Yoko Ogawa oder der Russe Michail Ossorgin. Sehr passend resümiert Fred Vargas über das Wesen der Zeit: »Ihr habt sicher bemerkt, dass, sobald etwas hinter uns liegt, sich auch vor uns schon wieder etwas abzeichnet, und immer so weiter. Zerbrecht euch nicht den Kopf darüber, ich sage euch die Antwort: dieses irritierende Phänomen nennt sich das Leben.« Noch ein Bonus im Jubiläumsjahr: sechs Postkarten und ein Kalenderquiz obendrauf.

Überraschung in Bordeaux

30924_gedichte_kalender_kl-pfer_und_meyer_verlag1_720x600Eine kleine Überraschung gleich hinterher. Jahrelang war der charismatische Gedichtekalender des Tübinger Verlages Klöpfer & Meyer in variantenreiche Grüntöne gewandet. Doch 2017 zeigt er sich erstmals in einem warmen Bordeauxrot, das die wechselvollen Änderungen noch unterstreicht. Nach dem Tode des kalligraphierenden »Erfinders« Thomas Bader führt der Verlagsleiter Hubert Klöpfer nun schon im zweiten Jahr die geschätzte Tradition fort und bietet eine Auswahl seiner Lieblingsgedichte im impressionistischen Federstrich dar.

Klassiker wie Lichtenberg, Eichendorff und Hölderlin sind ebenso vertreten wie zeitgenössische Lyriker des Verlages, von Walle Sayer bis Christine Langer. Ein Sammlerstück für alle Poesieliebhaber und Ästheten.

Die Blumen des Frühlings sind die Träume des Winters

gartenkalenderAuf manchen Kalender wartet man sehnlichst bereits im Herbst, wenn die ersten Blätter fallen. Und erst recht an düsteren, diesigen Wintertagen. Harenbergs poetischer, ausdrucksstarker und farbgewaltiger literarischer Gartenkalender gehört eindeutig dazu. Mein Garten, mein Glück jubilieren Schriftsteller, Künstler und Denker aller Epochen. Sie bestaunen gefühlvoll »die feinen Schatten, die am Nachmittag die Rabattenrosen auf den Sandweg werfen« (Marieluise Kaschnitz) oder »das sonnig Fleckchen, wo tausend Anemonenglöckchen umgaukelten des Veilchens Duft« (Annette von Droste-Hülshoff).

Durchsetzt mit einer gesunden Prise Pragmatismus nach Rudyard Kipling, der trocken konstatiert: »Ein Garten entsteht nicht dadurch, dass man im Schatten sitzt.« Die gelungenen Arrangements von literarischen Texten und ästhetischen Fotografien auf dem überbordenden Farbenreichtum der Kalenderblätter beglücken rundherum. Denn schon Cicero wusste: »Hast du einen Garten und eine Bibliothek, dann hast Du alles, was du brauchst.«

Maria, ihm schmeckt´s!

kueche_2017_01Was wäre die Weltliteratur ohne die Schilderung deftiger Tafelfreuden, ausschweifender Familienfeste und tröstlicher Leibspeisen? Gehören Schreiben, Schmökern und Schmausen nicht zu den schönsten Vergnügungen? Auf jeden Fall gelingt es der Herausgeberin Sybil Gräfin Schönfeldt jedes Jahr aufs Neue, kulinarische Literaturhappen aufzuspüren und schmackhaft darzureichen – inklusive nachempfundener Rezepte und köstlicher Zitate, garniert mit Autorenporträts und appetitanregenden gastrosophischen Abbildungen.

Kochnovizen erhalten zudem auf einem Extrablatt Anleitungen für Basisrezepte, Wissensdurstige delektieren sich an akkuraten Quellen- und Abbildungsverzeichnissen, samt alphabetischer Liste aller zitierten Autoren. Und die reichen von Clemens Brentano bis Cecilia Ahern, von Gustave Flaubert bis Ulrich Greiner. Bei diesem literarisch-lukullischen Wochenkalender Literaur & Küche läuft einem nicht nur das Wasser im Munde zusammen, man findet mit Sicherheit auch Lieblingslektüre für jeden Geschmack.

Schwarz wie meine Seele

cafeBleiben wir in genießerischen Gefilden. Ars vivendi besucht mit seinem Literarischen Café-Kalender Kaffeehäuser und Bistros, die ausgewählte Schriftsteller in ihren Romanen verewigt haben. Treten wir eine kleine Weltreise an: mit Ernest Hemingway (Paris, ein Fest fürs Leben) und Patrick Modiano (Im Café der verlorenen Jugend) in die französische Hauptstadt, mit Stendhal (Die Kartause von Parma) nach Norditalien oder mit Siegried Kracauer (Ginster) ins Frankfurt des frühen 20. Jahrhunderts.

Dieser Wochenkalender erfreut durch eine gelungene Melange aus literarischen Zitaten und stimmungsvollen Fotografien, verfeinert durch köstliche Rezepte, einem Kaffee-Quiz und kleinen Weisheiten. Bei einer Tasse Espresso, Mokka oder Cappuccino glaubt man nur allzu gerne Gero von Randow: »Genuss ist die wirkungsvollste Art, für einen Moment die Vergänglichkeit zu unterbrechen.«

Vier weiche Tatzen

der-literarische-katzenkalender-2017_b6Katzen gehen immer – schließlich sind sie des Deutschen liebstes Haustier. Wer bei Schöfflings Literarischem Katzenkalender nicht in spontane Verzückung verfällt, hat kein Herz. 53 charmante, freche, schelmische Schwarz-Weiß-Fotografien werden von passenden Textauszügen und Zitaten begleitet, mal mit spitzbübischem Augenzwinkern, mal mit philosophischem Tiefgang.

2017 kommen Klassiker wie William Shakespeare, Heinrich Heine und Theodor Fontane zu Wort, aber auch der Lyriker Walle Sayer oder der indische Yogi Swami Prajnanpad. Théopile Gautier schwärmt sogar von seinem literarisch begabten Kater (»Ich würde mich nicht wundern, wenn er nächtens, in irgendeiner Dachrinne, im Schimmer seiner phosphorizierenden Augen, seine Memoiren hingekratzt hat.«) Elegant chamoisfarbene Kalenderblätter und eine rote Spiralbindung sorgen für Pep – und machen diesen Kalender zum perfekten Geschenk für alle belesenen Liebhaber der Samtpfoten.

Wish you were here

 arche-literatur_2017_01Schon seit über 30 Jahren erfreut der Arche Literatur Kalender mit jährlich neuen thematischen Highlights und bemerkenswerten (Wieder-)Entdeckungen. Angesichts des für 2017 ausgerufenen Mottos Von Nähe und Ferne haben die beiden Verlegerinnen Elisabeth Raabe und Regina Vitali wieder so manchen literarischen Schatz aufgespürt. Denn räumliche Distanz und schmerzliche Abwesenheit zwischen Ehepaaren und Geschwistern, Geliebten und Musen, Seelenverwandten und Kollegen scheint von jeher eine wirksame Triebfeder des Schreibens zu sein.

Jedes Kalenderblatt ist einem in der jeweiligen Woche geborenen oder verstorbenen Autor gewidmet, vereint Briefauszüge, Tagebuchnotizen und Zitate mit Fotografien und Porträts des Verfassers – mal im Kreise seiner Lieben, mal stolz oder nachdenklich ganz alleine. »Er ist so einsam ohne Dich, dieser erste Schnee«, schreibt Carson McCullers an ihren geschiedenen Ehemann. »Dies abgekürzte Leben beschäftigt mich viel und gramvoll«, klagt Thomas Mann nach dem Selbstmord seines Sohnes Klaus. Und Robert Gernhardt beendet seine urkomische Ostfriesische Romanze mit den Zeilen: »Zwei Wochen lang wird sehr geflennt, dann hat man sich in Leer getrennt

Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?

frauenkalender2017webUnbeschreiblich weiblich (und zugleich in neuer Gestaltung) gibt sich der literarische Frauenkalender 2017 von ebersbach & simon: Jede Woche ein Frauenporträt oder eine Filmszene vor pastellblauem, lindgrünem oder anthrazitfarbenem Hintergrund, dazu ein Romanausschnitt, Zitat oder Gedicht. Mal spitzzüngig und frech, mal nachdenklich bis traurig, oft aber überschäumend, wild und lasziv.

Eine lachende, rauchende Ingeborg Bachmann beklagt das Fehlen guter Liebhaber. Doris Lessing entlarvt die Projektionen ihrer Mutter. Kate Chopin schwimmt sich frei und auch Anais Nin lässt sämtliche Kleidungsstücke fallen. Doch nicht nur Liebe und Leidenschaft sind die Themen dieses Kalenders, sondern auch Alter, Angst und Alltag, mit all den Zwischentönen und Facetten, die nicht nur unbeschreiblich weiblich sind.

Die Dämmerung war apfelgrün …

fliegende-woerterFliegende Wörter – welch treffender Titel für den (typo)graphisch und farblich originell gestalteten Gedichtekalender des Daedalus-Verlages, bei dem die Buchstaben tanzen und mäandern, die Zeichen, Muster, Farben eine gelungene Symbiose mit den poetischen Inhalten eingehen. Erich Mühsam beschwört den überquellenden Frühling im April. Friedrich Nietzsche lässt es im September über Pinien blitzen. Und im Dezember besingt Ulla Hahn mit irritierendem Unterton eine Stille Nacht.

53 Qualitätsgedichte setzen jede Woche neue Akzente und Anregungen – wahlweise zum »Verschreiben« oder »Verbleiben«, denn jedes kartonierte Kalenderblatt birgt zugleich eine abtrennbare Postkarte in sich. So ist doppelte Lesefreude garantiert.

Ich hatte ein Haus in Rungstedlund

kalender-menschen-und-orte-2017Welche Räume und Plätze prägten einen Schriftsteller, wo kam er zur Ruhe oder ließ sich inspirieren? Der großformatige Monatskalender Menschen und Orte zeigt auserlesene Schwarz-Weiß-Fotografien von Angelika Fischer, die alle der gleichnamigen, bibliophilen (und sehr empfehlenswerten!) Schriftenreihe der Edition AB Fischer entlehnt sind.

Ruhig und weit ist der Blick durch einen Torbogen des Rüschhauses, in dem Annette von Droste-Hülshoff in aller Abgeschiedenheit einen großen Teil ihres lyrischen Werkes verfasst hat. In geradezu graphischer Schlichtheit zeigt sich Gerhard Hauptmanns Schlafzimmer auf Hiddensee (»Mein Tagwerk besteht eigentlich nur darin, dass ich über das nachdenke, was ich im Traum gesehen und gedacht habe.«). Kraftspendend und ruhevoll zeigt sich der Park von Rungstedlund, Tania Blixens Geburtshaus, in das sie nach ihrer Zeit in Kenia zurückgekehrt ist. Auf jedem Kalenderblatt bekräftigt ein Zitat des jeweiligen Schriftstellers oder Künstlers seine Hingabe zum geliebten Ort. Meine ganz persönliche Kalender-Entdeckung des Jahres!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Aufbau Literatur Kalender 2017
Berlin: Aufbau Verlag 2016
21,95 Euro

Der Gedichtekalender 2017
Tübingen: Klöpfer & Meyer 2016
25.- Euro

Mein Garten, mein Glück: Literarischer Gartenkalender 2017
Unterhaching: Harenberg 2016
17,99 Euro

Arche Küchen Kalender 2017: Literatur & Küche
Zürich, Hamburg: Arche Kalender Verlag 2016
19,90 Euro

Literarischer Café Kalender 2017
Cadolzburg: ars vivendi 2016
19,90 Euro

Der literarische Katzenkalender 2017
Frankfurt: Schöffling & Co 2016
22,95 Euro

Arche Literatur Kalender 2017: Von Nähe und Ferne
Zürich, Hamburg: Arche Kalender Verlag 2016
22.- Euro

Unbeschreiblich weiblich: Der literarische Frauenkalender 2017
Berlin: ebersbach & simon 2016
22.- Euro

Fliegende Wörter 2017
Münster: Daedalus Verlag 2016
16,95 Euro

Menschen und Orte 2017: Lebensorte von Schriftstellern und Künstlern
Berlin: Edition AB Fischer 2016
19,80 Euro

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Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Ob der Planet lebendig sei, sagte Farb, das wüßte er gern.

Eine spannende Frage, sagte Anne, hielt ihre Tasse in der Hand und blickte nachdenklich auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie war fasziniert, allein was ihr mißfiel, war die gegabelte obere Verankerung des Henkels, es gab gefälliger geformte Tassen, sie erinnerte sich an Mon Ami von Roerstrand, doch was wäre ohne Fehl und Tadel, sie schenkte Tee ein, sie warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Selbstverständlich, führte sie fort, auf ihm gediehen Pflanzen, er biete dem Getier eine Heimstatt.

Das sei nicht seine Frage gewesen, erinnerte Farb, sondern er habe wissen wollen, ob der Planet lebendig sei, ja, gewiß, er nickte bekräftigend, dieser Planet.

Integration

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Integration

Er hat sich sehr aufgeregt, sagte Farb, du hättest ihn erleben sollen.

Tilman nickte.

Annika schlug ihre Reisezeitschrift zu und legte sie beiseite.

Cheyne Beach liegt an der südwestlichen Ecke Australiens, nicht weit von Albany, sagte Tilman, fünfundsechzig Kilometer westlich, und wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Stützpunkt der Walfänger, dort vor der Küste wurde immer schon dem Wal nachgesetzt, anderthalb Jahrhunderte lang war es eine einträgliche Industrie, und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dort eine Station zur Verwertung der Walkadaver eingerichtet, die Cheyne Beach Whaling Company, die allerdings nicht besonders ertragreich war.

Annika lächelte. Das, sagte sie, war schon die Folge der ersten Jahre der weltweiten Proteste gegen den Walfang.

Die Proteste waren höchst wirksam, sagte Tilman, der Einsatz war allerdings lebensgefährlich, den Walfangbooten wurde mit wendigen Schlauchbooten in die Parade gefahren, so daß eine geordnete Jagd kaum möglich war, die Fangquoten gingen zurück, und im November 1978, alles gut, wurde die Walstation aufgelöst.

Ohnmacht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ohnmacht

Sie können sich das nicht erklären, sagte Farb, nein, sie waschen die Hände in Unschuld.

Von wo er komme, fragte Annika.

Exakt, sagte Farb, woher er komme, der Haß, so unerwartet, das frage man sich, so heftig, wer solle das verstehen, es handle sich um einen grundlegenden Klimawandel im sozialen Leben, wie könne das sein, Rettungsdienste würden angegriffen, Feuerwehren in der Arbeit behindert.

Lesestoff

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lesestoff

Was Annika gerade lese, fragte Farb.

Pearl S. Buck, sagte Tilman, sie lebte von 1892 bis 1973, doch wie komme Annika auf diese Autorin.

Sie sei mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet worden, 1938, sagte Farb, ihr Werk sei nicht unumstritten.

Ihr werde ein in Teilen triviales Niveau vorgehalten, erklärte Tilman.

Sie lese ›Drachensaat‹, sagte Annika, ›Dragon Seed‹, 1942, das Geschehen spiele während des chinesisch-japanischen Krieges, der im Juli 1937 durch einen Zwischenfall südöstlich von Beijing ausgelöst worden sei, sie lese Pearl S. Buck gern, sagte sie, und sei fest entschlossen, mehr von ihr zu lesen.

Auf der Suche nach Robinson Crusoe

Kurzprosa | Jonathan Franzen: Weiter weg 21 recht unterschiedliche Texte vereinen sich in Jonathan Franzens Essayband Weiter weg, und doch verbindet sie fast alle etwas miteinander – die Gedanken an den 2008 verstorbenen Freund und Autor David Foster Wallace. Aber auch die Liebe spielt eine Rolle, die Liebe zur Literatur, zu einer Frau oder zu Vögeln (Franzens große Leidenschaft). Der Autor gewährt tiefe Einblicke und lädt ein, über sich und das Leben zu reflektieren. Von TANJA LINDAUER