Gramner lehnte sich zurück und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Rand der mittschiffs ausgespannten Persenning. Die Ojo de Liebre, sagte er, ist unsere Zuflucht vor den Unbilden des Alltags.
Was redet er, fragte sich Rostock, unser Alltag ist hart, wir kennen keine Zuflucht.
Gramners Satz galt, davon war Mahorner überzeugt, allein für diese Tage der Fangpause, das war in der Tat ungewöhnlich, er sollte besser nicht so viel Aufhebens davon machen, sondern sich freuen, wie entspannt die beiden Jungen diese Tage nutzten: sie lagen am Strand, schwammen in der Lagune oder schlugen Salti.
Dieser Aufenthalt ist unser Alltag, flüsterte Bildoon, wir sitzen dem Teufelsfisch im Nacken. Dort, sagte er und deutete auf eine abtauchende Fluke.
Ruhe, zischte Thimbleman.
Der Ausguck blickte versonnen zum Strand.
Eldin, Scammons Obermaat, war verstimmt. Selbstverständlich pflichtete er Gramner bei, doch man äußerte eine solche Ansicht nicht coram publico. Diese Lagune war einzigartig, weiter entfernt von dem Chaos der Stadt war nicht denkbar, doch sie hatten sie aufgesucht, um den Grauwal zur Strecke zu bringen und mit gefüllten Fässern heimzukehren, der Aufenthalt sollte sich in klingender Münze auszahlen, Tage ohne Arbeit waren nicht eingeplant. Vielleicht daß die Ojo de Liebre doch eher ein Sehnsuchtsort für den Grauwal war.
Er brannte darauf, wieder seine Schaluppe zu fahren, er hatte sich beim ersten Einsatz die Schulter gestaucht, noch schmerzte jede Bewegung, ein Ende war kaum absehbar, und in der Hauptsache war ihre Arbeit nun seinetwegen mehrere Tage unterbrochen.
Soll man die Männer um diese Lage beneiden? Niemand mußte arbeiten, auf einen Schlag war alles verändert.
Der einzige, der sich seine Arbeit nicht nehmen ließ, war Scammon, er hatte wissenschaftliche Ambitionen und saß über seinen Aufzeichnungen über Säugetiere der Meere. Fast schien ihm einerlei, ob die Männer auf Walfang gingen oder nicht, er stand über diesen Dingen, ihr Alltag war ihm eher lästig.
Die ›Marin‹ mit der schwarzen Mannschaft und Termoth als Kommandeur ankerte draußen am Strand, dort waren die Gerätschaften zum Flensen und der Brennofen aufgestellt, dessen bestialischen Gestank sich die Mannschaft der ›Boston‹ nicht zumuten mochte, doch weil es an Nachschub fehlte, war auch auf der ›Marin‹ nichts zu tun, der üble Gestank war verweht. Die Schwarzen lungerten herum, schnitzten an Walbein oder Holz, knüpften Knoten, schlossen Wetten ab, sangen Lieder; einige waren neugierig und begaben sich tiefer in die Einöde der Sonora.
Sobald die Dämmerung einbrach, versammelten sie sich auf der ›Boston‹, um den Erzählungen von Sut, Gramner und Termoth zuzuhören, oder sie saßen um ein Feuer am Strand. Wenn Touste gut gestimmt war, sang er, spielte Gitarre und Mundharmonika.
Die Sonne senkte sich hinab zum Horizont, tiefe Stille lag über der Lagune, wie aus weiter Ferne zierte das Rauschen des Meeres diesen Anblick.
Das Idyll ist unverkennbar, sagte Pirelli und lächelte.
Das wäre nicht die Ruhe vor dem Sturm, fragte Mahorner.
Ob denn die Lage explosiv sei, spottete Rostock.
Pirelli war amüsiert und lachte. Die Lage sei immer explosiv, sagte er, und jede Ruhe, fügte er hinzu, sei Ruhe vor dem Sturm.
Von seinen schwarzen Matrosen begleitet, kletterte Termoth über die Reling und setzte sich neben den Ausguck. Eine derart geschmeidige Bewegung habe er zum erstenmal gesehen, schwärmte er, und bewundere die Eleganz, mit der er den Salto ausgeführt habe und sogar den Flickflack.
Der Ausguck fühlte sich geschmeichelt und lächelte. Er war zu scheu, Termoth zu antworten.
Stürme, erinnerte Pirelli, seien stets gegenwärtig.
Denkt an die Stadt, sagte Gramner. Er hatte sich auf die Persenning gesetzt und sprach zu den Männern wie von einer Bühne.
Vor allem aber wüten die Stürme in den Herzen, sagte er, sie entfachen die Gier, daß sie bis tief in die Seelen lodert. Das sei das Schlimmste, sagte er, der Mensch sei nicht länger Herr seiner selbst, versteht ihr, die Gier okkupiert und vernichtet ihn.
Ausgebrannt, sagte Touste.
Stürme wüten auch in der Stadt, erinnerte Pirelli, lodernde Feuer, sagte er, ganze Straßenzüge würden in Schutt und Asche gelegt, nein, kein böser Traum, sagte er, die Flammen seien gewalttätig und unberechenbar.
Der Mensch zähme sie nicht, sagte Gramner, wie denn auch, jedoch kenne er die gefährdeten Monate und Wochen, die Saison der Waldbrände, er könne sich der Natur anpassen und den Gefahren ausweichen, das Segelschiff gründe sich in diesem Konzept, die indigenen Stämme hätten ihre eigene Kultur im Umgang mit den Feuern gepflegt, und kein Gedanke kam auf, die Natur zügeln zu wollen.
Eine Zuflucht, fragte Gramner, nein, eine Zuflucht existiere nicht, nein, nie und nimmer, der Mensch sei Teil der Natur, er könne weder davonlaufen noch sich verbergen, das wisse der Seemann am besten, der sich behaupten müsse zwischen Stürmen und Wogen, da finde er weder einen Ausweg noch eine Nische.
Die Männer lachten.
Das ist unser Leben, sagte Touste und schlug einige Akkorde auf seiner Gitarre.