In ihrem jüngsten Jugendbuch »Heul doch nicht, du lebst ja noch« schildert Kirsten Boie anhand von drei Jugendlichen die Situation in Hamburg im Juni 1945, kurz nach Kriegsende. Cornelia Franz beginnt ihre Hamburger Geschichte im August 1939, kurz vor Kriegsbeginn. Ein wichtiges Erinnern, findet ANDREA WANNER.
Henri ist 15, Jazz- und Swingverliebt. Er will, wie seine Freunde, seine Jugend genießen. Gerade ist er aus London vom – leider abgekürzten – Besuch bei einer befreundeten Familie zurück, im Gepäck Louis Armstrong mit den Mills Brothers und ihrem Stück »The Flat Foot Foogie«. Denn ganz klar:
I don’t know what to do
And you wanna show down
It’s the only dance for you to do.«
Die Platte wird dann im Kaifu-Bad auch gleich auf das tragbare Grammophon gelegt: So soll das Leben sein, so lässt es sich aushalten.
Die Realität ist eine andere. Der Schulalltag ist geprägt von Rassenlehre und markigen völkischen Sprüchen, der Blockwart hat einen genauen Blick auf alles, was im Haus passiert; die Hitlerjugend nicht weniger. Da sind es die geheimen Eskapaden, die kleinen Partys, auf denen getrunken, Swing gegrölt und gehottet wird, was das Zeugs hält.
Aber so bleibt es nicht. Bereits der Anfang der Geschichte um Henri wird von einer Rahmenhandlung gebildet. Es ist bereits März 1941, Henri befindet sich in einer Zelle im Stadthaus, dem Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei Hamburg. Dort sitzt er in absoluter Dunkelheit zusammen mit Robert, einem engagierten Kommunisten, der Flugblätter gegen die Nazis verteilt hat. Kein gutes Zeichen. Man lässt die beiden schmoren, die wissen, dass man sie über kurz oder lang zu Verhören holen wird.
Diese kurzen Sequenzen, oft nur anderthalb, maximal vier Seiten lang, unterbrechen das Geschehen. Sie sind in Weiß auf Schwarz gedruckt, zwingen zum Innehalten und Nachdenken. Denn eigentlich sieht es für Henri doch noch ganz gut aus in den Jahren 1939 und 1940. Er verliebt sich. In Inge, dem hübschesten Mädchen überhaupt. Er hört Musik, geht tanzen und schafft es meistens, den Komplikationen aus dem Weg zu gehen. Und wenn nicht, geht es doch immer halbwegs glimpflich für ihn aus. Es wird nicht so bleiben.
Die Politik ist der Alltag. Die Nazis geben den Ton an. Hanna und ihr ein Jahr älterer Bruder Eduard, die für Henri fast wie Geschwister sind, emigrieren ohne Abschied mit ihren Eltern, sind für immer aus Henris Leben verschwunden. Die ersten Freunde werden eingezogen, der Krieg ist da und die deutschen Siege auch. Auch das wird nicht so bleiben. Während alle das Ende der Nächte in den Luftschutzbunkern und der Bombardierungen herbeisehnt, weiß man als heutige Leserin, dass es noch auf sich warten lassen wird.
Henri und seine Freunde wollen ihre Jugend genießen, so, wie sie sich die vorstellen. Andere passen sich an, gehen im Nationalsozialismus und seiner Ideologie voll auf. Und wieder andere leisten Widerstand. Aber ist die Hamburger Swingszene, die es nach den Recherchen von Cornelia Franz so gab, nicht auch eine Form des Widerstands? Die Nazis sehen es so. Und Robert, der Kommunist, beginnt tatsächlich auch darüber nachzudenken. Bewegende Fragen, die auch heute beschäftigen: Wie hätte ich mich verhalten? Wer weiß das schon eindeutig zu beantworten? Ein »Swingheini« zu sein, war für manche jedenfalls ein Weg.
Ein beeindruckendes Jugendbuch, das noch lange nachklingt.
Titelangaben
Cornelia Franz: Swing High. Tanzen gegen den Sturm
Hildesheim: Gerstenberg 2022
224 Seiten, 16 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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