Jugendbuch | Sara Lövestam: Wie ein Himmel voller Seehunde
Was macht Erwachsensein aus? Eine Familie haben, ein großes Haus (oder zwei), bestimmten Vorstellungen folgen von dem, was man tut und was nicht? Oder ist da mehr? Wie entscheidet man das und vor allem, wann sind solche Entscheidungen keine kindischen mehr? Sara Lövestam hat diese Fragen in einen atemberaubenden Sommerroman gepackt. Von MAGALI HEIẞLER
Armes reiches Mädchen auf der einen, armes armes Mädchen auf der anderen Seite, Sommerferien, eine Insel im Stockholmer Schärengarten, so beginnt es. Aber schon der erste Satz, knapp, klar, beweist, dass es sich hier nicht um einen einfachen Liebesroman handelt, dessen Lektüre man sich genüsslich hingeben kann. Anna und ihr Vater kommen auf die Insel, seit Anna auf der Welt ist. Lollo wird von ihren Eltern zum ersten Mal in diese öde Gegend verschleppt (meint Lollo), weil die sich in den Kopf gesetzt haben, für ein Mal ‚richtig‘ auszuspannen. Die beiden Mädchen sehen sich schon auf der Fähre und wissen auf den ersten Blick gleich alles übereinander. Heruntergekommene Tochter eines Alkoholikers die eine, verwöhnte Bonzengöre die andere. Alles klar.
Bis der Abend am Strand kommt, an dem Anna Lollo spontan fragt, ob sie mit ihr zum Netze auslegen ausfahren will. Und Lollo genauso spontan zusagt. Zwei Stunden auf dem Wasser, ein kleines Boot, Geruch von Benzin und Tang, einige knappe Sätze von Anna und ein, zwei schräge Betrachtungen von Lollo genügen, um alles zu verändern.
Nähe und Distanz
Lövestam geht ihre Themen distanziert an. Erzählt wird abwechselnd aus Annas und Lollos Perspektive, aber keineswegs aus der Ich-Perspektive. Das schafft zusätzliche Distanz, erlaubt zugleich aber detaillierte Beschreibungen der Empfindungen, die es ermöglichen, dem allmählichen Wachsen der Liebe der beiden bis ins feinste nachzufühlen. Die Mädchen beobachten sich selbst ebenso genau wie die andere. Emotionale Reaktionen, körperliche Reaktionen werden registriert mitsamt der Verwirrung oder auch dem Glück, das sie auslösen. Anna weiß im Unterschied zu Lollo, dass sie lesbisch ist.
Gesagt hat sie es noch keinem. Lollo sagt sie es. Die beiden offenbaren sich einander, ohne zunächst zu wissen, warum. Das schafft wiederum eine Nähe zu den Figuren, die enger kaum möglich wäre. Die Unsicherheiten, ihr Glück, ihre verliebten Verrücktheiten sind greifbar. Am besten kommt diese Nähe durch Distanz halten zu Geltung, wenn es darum geht, zu erzählen, was in einer vorgeht, die weiß, was sie eigentlich tun sollte und es doch nicht tut, weil es ihr nicht gelingt, in diesem Augenblick über den eigenen Schatten zu springen. Oder eben doch, wie am Ende. Das ist ein gutes. Zugleich jedoch der Beginn einer neuen Geschichte, von der niemand weiß, wie sie endet.
Harte Bedingungen
Auf den ersten Blick – die Leserin wird ebenso irregeführt wie die beiden Protagonistinnen – wirken die Beschreibungen des jeweiligen familiären Umfelds wie eine Karikatur. Sie sind keine. Es ist im Gegenteil ein punktgenauer Bericht davon, wie es in den Gruppen der Gesellschaft oberhalb und unterhalb der Mitte zugeht. Es sind fremde Welten, im Verhalten, den Einschätzungen, selbst den Assoziationen und schließlich den Urteilen, so fremd, dass man nicht glauben kann, dass sich all das innerhalb derselben Gesellschaft abspielt. Die Beispiele sind hart, Lollos unbarmherziger Teenager-Blick auf die Erwachsenen verschärft die Härte noch.
Lövestams Sympathien liegen, wenn auch unaufdringlich, bei Anna. Ihre Erfahrungen haben sie frühzeitig reifen lassen. Sie wirkt älter als Lollo. Der Einblick in ihr Inneres zeigt aber ihre Sensibilität und Verletzlichkeit. Annas Leben mit dem verwitweten Vater, einem Frührentner, dem stets mehr als knappen Geld und den daraus resultierenden Peinlichkeiten im Alltag wird kontrastiert mit dem überreichlich ausgestatteten Alltag Lollos, vollgestopft mit Dingen und Freundschaften, die sich in oberflächlichen Chats und in im Minutentakt übermittelten Selfies erschöpfen. Niemand ist erwachsen in diesem Kreis, eine wenig schöne Einsicht für Lollo.
Lövestam verschweigt jedoch nicht, dass Gegenwehr schwer ist und wie lange es dauert, bis man Entscheidungen fällen kann, die wirklich Entscheidungen sind, und nicht nur Nachgiebigkeit gegenüber dem Gewohnten.
Die Insel, der Wald und das Meer, die Sommerabende am Lagerfeuer und den gegrillten Fischen jedoch gehören gleichermaßen beiden, Anna und Lollo. Auf der Insel ist Anna sicher, weil sie jeden Stein kennt. Lollo dagegen hat die Chance, eine neue Welt kennenzulernen. Was die beiden Mädchen darüber hinaus verbindet, ist ihr schräger Blick auf die Dinge und ihr Einfallsreichtum. In diesem Punkt kann sich die Leserin zusätzlich auf Überraschungen freuen. Der titelgebende ›Himmel voller Seehunde‹ ist nur eine der eigentümlichen Betrachtungsweisen, mit denen die beiden das Publikum erfreuen.
Anna und Lollo, was für ein wunderbares Paar. Man wünscht ihnen viel, viel Glück. In der zersplitterten Gesellschaft, in der sie – und wir – leben, werden sie das auch brauchen.
Titelangaben
Sara Lövestam: Wie ein Himmel voller Seehunde
(2015 Som eld, a.d. Schwedischen v. Stephanie Elisabeth Baur)
Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2017
255 Seiten, 12,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe