Jugendbuch | Grit Poppe: Alice Littlebird
1876 wurden in Kanada die ersten Internatsschulen, sogenannte Residential Schools gegründet. Sie wurden für die Kinder der Ureinwohner der Cree, ein indigenes Volk der Indianer Nordamerikas eingerichtet. Erklärtes Ziel war es, »to kill the Indian in the child«. Grit Poppe machte daraus einen beeindruckenden Jugendroman. Von ANDREA WANNER
Alice Littlebird kommt in die Black Lake Residential School. Alles fühlt sich falsch und entsetzlich an: Die Haare wurden ihr abgeschnitten; statt auf dem Boden, eingehüllt in das Bärenfell ihres Großvaters, muss sie in einem kratzigen Bett mit fremden Gerüchen; ihre Kleidung, liebevoll von Mutter und Großmutter hergestellt, verschwindet und sie muss die Anstaltskleidung tragen; in ihrer Muttersprache zu reden, ist streng verboten, nur Englisch ist erlaubt. Und beten, zu einem merkwürdigen Gott an einem Kreuz, von dem Alice nichts versteht. Auch ihr Name wird ihr genommen: aus Alice Littlebird wird Nr. 47.
Von Beginn an erlebt Alice den Alltag in Black Lake als traumatisch und lehnt sich dagegen auf. Ihre einzige Hoffnung: ihr Bruder Terry ist auch hier, seit zwei Jahren schon. Sie will ihn unbedingt sehen und mit ihm reden: Ein hoffnungsloses Unterfangen, denn die Lebenswelten von Jungs und Mädchen sind im Internat streng getrennt, die Nonnen scheinen ihre Augen überall zu haben.
Und doch gelingt es Alice. Zu ihrer Freude und Überraschung hat Terry bereits einen fertigen Fluchtplan, ausgearbeitet bis ins kleinste Detail. Alice und Terry versuchen es.
Grit Poppe, 1964 in Boltenhagen in der ehemaligen DDR geboren, fand große Beachtung mit ihren Jugendromanen ›Weggesperrt‹ und ›Abgehauen‹, in denen die Autorin, die selbst in der Bürgerrechtsbewegung engagiert war, von der Willkür und Gewalt in den Jugendwerkhöfen erzählt. Die in diesen Einrichtungen des Jugendhilfe herrschenden menschenverachtenden Zustände hat sie sorgfältig recherchiert, so wie sie auch jetzt über die Hintergründe der gefängnisähnlichen Internatsschulen in Kanada geforscht hat, ehe sie ihr Buch schrieb.
Es geht unter die Haut. Man leidet mit den ungerechten behandelten Kindern, empfindet Wut und Verachtung für die, die sie quälen, staunt über den Mut und Lebenswillen, der doch noch in den starken Jungs und Mädchen steckt. Abwechselnd wird aus der Sicht von Alice und Terry berichtet, so ergibt sich ein rundes Bild.
Psychologisch einfühlsam, realistisch, mit vielen spannenden Abenteuern in der Natur und zwischenmenschlichen Begegnungen, die zart und vorsichtig inmitten des Chaos für so etwas wie Würde sorgen: Poppes Buch fasziniert und empört und findet am Ende ein für ein Jugendbuch beruhigendes gutes Ende. Nicht umsonst hat sie ihrer Heldin den Namen Alice gegeben und lässt auch gelegentlich ein weißes Kaninchen durch das Buch hoppeln.
Titelangaben
Grit Poppe: Alice Littlebird
Wuppertal: Peter Hammer 2020
238 Seiten, 15 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
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