Jugendbuch | Franziska Moll: Egal wohin
Abhauen, weg, alles hinter sich lassen, das sind Träumereien, alltäglich, geradezu banal und rundum gesellschaftsfähig. Tatsächlich sind sie Teil des Problems, das in der Regel deswegen so bedrückend wurde, weil man sich ihm nicht gleich stellen wollte. Eben das übergeht auch Franziska Moll in ihrem zweiten Jugendroman ›Egal wohin‹ und so endet auch diese Geschichte vom Davonlaufen mal wieder daneben. Von MAGALI HEISSLER
Jo zählt die Tage wie eine Gefängnisinsassin. Sie fühlt sich auch wie eine. Noch ist sie siebzehn und muss tun, was ihre Eltern sagen. Aber der achtzehnte Geburtstag steht vor der Tür und damit geht es fort, in die Freiheit. Jo will vor allem eins, alles hinter sich lassen.
Gründe hat sie, glaubt sie, genug. Viele Jahre zuvor gab es einen Unglücksfall in ihrer Familie, dessen Folgen sie zerstörten. Zwar sind Jos Eltern inzwischen reich geworden, der Reichtum hat die Brüche und Lücken im Familienleben jedoch nur vergrößert. Echte Beziehungen zwischen den Eltern oder zwischen Jo und ihren Eltern gibt es nicht. Tatsächlich hat Jo eine versuchte Selbsttötung hinter sich. Sie ist nicht sicher, ob sie nicht immer noch sterben will. Andererseits bemüht sie sich, Boden unter den Füßen zu bekommen. Das hat sie ins »Paradies« gebracht, einen etwas schmuddeligen Biergarten, wo sie als Bedienung arbeitet. Im »Paradies« fand sie ihre Rettung, den Koch, der ihr mit selbstbewussten Sprüchen beisteht. Vor allem aber mit einem Fluchtplan samt unredlicher Finanzierung. Jo zählt die Tage.
Den Schmerz leben
Moll erzählt strikt aus Jos Perspektive. Das Mädchen ist sehr verschlossen, was sie fühlt, denkt, wie sie so abweisend geworden ist bis hin zum Zynismus, erschließt sich nur aus den Puzzleteilchen, die Jo der Leserin hinwirft. Zuweilen entgleitet ihr auch etwas, selbst Jo kann nicht immer wachsam sein.
Auch die bis dahin wichtigste Person in Jos neuem Leben nach dem Krankenhaus findet man nur in den Worten des Mädchens. Es ist lange nicht klar, was davon echt ist und was aus Jos Fantasie stammt. Jo stellt keine Fragen, weil sie selbst nicht ausgefragt werden will. Sie hat den Koch nicht einmal nach seinem Namen gefragt. So vertraut er ihr ist, für sie ist er einfach nur »Koch«. Sie lebt für seine Sprüche, die sich aus Erkenntnis, Weltverachtung und Resignation zusammensetzen. Für Jo, jung und unerfahren, wie sie trotz ihres Traumas ist, kommen sie einem Evangelium gleich. Koch weiß alles. Was Koch sagt, führt Jo aus. Was sie sagt, bestätigt er anscheinend.
Koch verlangt vor allem nicht, dass sie sich ändert. Das ist wichtig. Ändern hieße, sich ihren Problemen stellen, mit dem inneren Schmerz umgehen. Aber Jo will den Schmerz leben, jeden einzelnen, den sie je erfahren hat, jede Minute. Um darin nie zu versagen, stößt sie andere so hart vor den Kopf, dass diese zurückbeißen. Oder Jo aufgeben. Das ist sehr überzeugend erzählt.
Egal wie
Das gestellte Problem befriedigend zu lösen, gelingt Moll allerdings nicht. Dabei ist der kleine Roman sehr anspruchsvoll konstruiert. Der Duktus, Jos unverschämte Ausdrucksweise, ihr hasserfüllter und verächtlicher Blick auf andere mit Ausnahme von Koch, ihr aggressiver Umgangston, ist getroffen, Jos Wortwahl feinst unfein wiedergegeben. Ein origineller Einfall sind Jos Vokabelübungen am Ende vieler Abschnitte. Sie lernt griechisch, denn abhauen möchte sie nach Kreta. Die fremde Sprache ist Mittel zur Distanzierung und das Erobern einer neuen Heimat zugleich.
Geschnitten wird das am Ende jeden Abschnitts mit verdichteten Textstücken, die Kindheitserinnerungen Jos enthalten und auch den Schlüssel zu dem großen Unglück, mit dem der Untergang der Familie begann.
Im zweiten Teil des Romans aber rutscht Moll mehr und mehr in eine landläufige Romanze ab. Die Autorin will ein süßes Ende egal wie. Unter dem vorgeblichen Blickwinkel der Empathie für illegale Einwanderer aus kriegszerstörten Ländern entwickelt sich eine entzückende Liebesgeschichte zwischen einem weiteren Küchenarbeiter und Jo. Amar wird das Pflaster auf der Wunde, die Koch reißt, der sich unversehens aus Jos Leben verabschiedet. Die ruppige Jo entwickelt sich zur wahren Wohltäterin für die, die sie sympathisch findet. Andere tritt sie wie zuvor, aber da der Grund nun der ist, dass sie wahrhaft liebt, soll man ihr das wohl verzeihen.
Kitsch und Sentimentalitäten
Ihren Eltern und deren Reichtum gilt weiterhin ihre ganze Verachtung, weswegen es wohl auch in Ordnung ist, sie zu bestehlen. Sie sind im Übrigen nicht die Einzigen, die dieses Schicksal trifft, Jo nimmt das Gesetz zu gern selbst in die Hand. Problematisiert wird das nicht. Tatsächlich erweist sich Jo als wahre Tochter der so verachteten Eltern. Sie ist rücksichtslos, egoistisch und nimmt sich, was sie möchte, wann immer sie möchte.
Ertränkt werden die ausgezeichneten Ansätze des ersten Teils schließlich in einer Soße aus Kitsch und Sentimentalitäten. Mit der Bedeutung von Namen wird gespielt, Johanna, so erfahren wir etwa, bedeutet: die Gnädige. Selbst Exupérys Horrorsatz »Man sieht nur mit dem Herzen gut« muss herhalten.
Auch Koch hat, wie sich herausstellt, nur aus den edelsten Gründen gehandelt. Das entlarvt im Nachhinein seine Sprüche als pure verbale Kraftmeierei. Da sie wesentlich sind zum Verständnis der sehr ungnädigen Jo, zerstört die Autorin hier ihr Konstrukt mit höchsteigener Hand.
Am Ende sausen Jo und ihr Liebster Händchen haltend in den Sonnenuntergang, ach, nein, nach Kreta, wo sie ein Restaurant eröffnen werden. Auch das noch. Ein verarmtes Land im Süden als Bedürfnisanstalt der Reichen mal wieder. Dass die mit geklautem Geld und ebensolchen Küchenutensilien anreisen, versteht sich von selbst.
Schade um all die Mühe.
Titelangaben
Franziska Moll: Egal wohin
Bindlach: Loewe 2015
220 Seiten. 12,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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