Provinz ist, wo ich bin

Kurzprosa | Wolfgang Pollanz: Die Undankbarkeit der Kinder

Altersstarrsinnige Verwandte, Nachbarinnen in Christl-von-der-Postmoderne-Dirndln und nach Argentinien ausgewanderte Wurstwarenfabrikanten bevölkern Wolfgang Pollanz´ Erzählungen. Dabei ist Die Undankbarkeit der Kinder eine geradezu lässliche Begleiterscheinung. INGEBORG JAISER genoss bei einem Glas Schilcher die Lektüre.

Pollanz»Alle Personen, auch der Ich-Erzähler, sind völlig frei erfunden und alle Geschichten an den Haaren herbeigezogen« warnt Wolfgang Pollanz gleich zu Beginn seines neuen Erzählbandes. Damit nur kein vorwitziger, altkluger, naseweiser Leser nach möglichen Parallelen forsche, nach Analogien oder Schlüsselszenen. Doch natürlich ertappe auch ich mich dabei, wie ich die Zeit zurückdrehe (irgendwann ins ausgehende letzte Jahrhundert) und mich noch einmal in diese sanfthügelige Landschaft weit im Süden Österreichs hinträume, mitten hinein in das kleine Pollanz`sche Häuschen im steirischen Wies, samt Blick auf Obstbäume und den nahen Waldrand.

Sehr gut kann ich mir hier die zahlreichen tödlichen Unfälle mit Genickbruch (vorzugsweise beim Kirschenpflücken) vorstellen. Die Angst vor Spinnen und anderem Getier, das an der efeubewachsenen Hauswand entlangkrabbelt. Das verheißungsvolle Rattern der vorbeifahrenden Züge zwischen Graz und Leibnitz. Und liegt nicht hier, in der Nähe zu Slowenien und zum Süden die allgegenwärtige Lust am Reisen, am Unterwegssein begründet?

Doch nehmen wir nicht zu viel vorweg. 12 Stories werden in Die Undankbarkeit der Kinder zusammengetragen – die Hälfte davon bereits an anderer Stelle erstveröffentlicht. Fast könnte man ein Best-of-Album vermuten, anlässlich des 60. Geburtstages des steirischen Autors, Publizisten, Kulturschaffenden und Musikers Wolfgang Pollanz. Melancholische, nostalgische, aufrichtige und sehr persönliche Stories sind es, Geschichten über Kindheit und Erwachsenwerden, über Familie und Herkunft, über Heimat und Reisen, über Zugehörigkeit und Identität.

Soundtrack einer Jugend

Hier werden scheinbar endlose Sommerferien bei der Salzburger Verwandtschaft herbeizitiert, aus deren Einerlei von öden Brettspielen und Autofahrer-unterwegs-Sendungen die prickelnde Entdeckung des Songs Marrakesh Express heraussticht – gleich gefolgt vom heimlichen Eierlikör-Konsum aus der Hausbar und der Live-Übertragung der ersten Mondlandung (»Der Onkel und der Mond«). Oder die immergleichen, in ihrer Skurrilität unübertroffenen Rituale jährlicher Familienfeiern, nebst Onkel Gustls beharrlichen Berichten von der Ostfront und Mutters anklagendem Lamento (»Undankbarkeit, nichts als Undankbarkeit«).

Das waren jene bedauerlichen Zeiten, als der Grundig mit Kassettenteil bei jeder C120-Kassette noch unweigerlich Bandsalat erzeugte. Von dort aus führt ein weiter, aber geradliniger Weg bis zum gestandenen Ich-Erzähler, der, sein Heil in der Ferne suchend, bis nach Berlin geflüchtet ist und – nach von Drogen und Musik untermalten Jahren – in die Heimat zurückkehrt (»Der Himmel über Sankt Pankraz«). Provokant ausgedrückt: In ein Land von Briefbombern und Kinderschändern, von »schmallippigen Technikertypen«, »intelligent und verbittert, sturschädelig und kleinkariert, gleichzeitig verschlagen und bösartig«.

Wegen der Gegend

Und dennoch, trotz aller Vorbehalte und Bedenken, wird es dem Ich-Erzähler immer wärmer ums Herz, je weiter er sich seinem Geburtsort nähert. Bis er kurz vor der Autobahnausfahrt das Navi abstellt. Jetzt findet er selbst nachts den Weg noch mit traumwandlerischer Sicherheit.

Wolfgang Pollanz´ Erzählungen sind gleichermaßen grundiert von diffuser, aber beharrlicher Heimatliebe wie dem sehnsuchtsvollen Streben nach der Ferne, Weite, Fremde. Sie sind eine heimliche Liebeserklärung an eine Region »zwischen Maisfeldern und Weinbergen«, an eine Familie, deren Altvorderen noch Slowenisch sprachen. Nur wer seine Herkunft kennt und auslotet, kann ihr solche Geschichten abtrotzen. Oder, wie Pollanz in einem Interview gegenüber dem Wiener Stadtmagazin Falter konstatiert: »Die Vergangenheit hat den Vorteil, dass sie abgeschlossen ist und man gut beurteilen kann, ob sie etwas getaugt hat.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben:
Wolfgang Pollanz: Die Undankbarkeit der Kinder
Graz: Edition Keiper 2014
127 Seiten. 16,05 Euro

1 Comment

  1. Grandioso Senora Jaiser!!

    Sogar den „Autofahrer unterwegs“ haste nicht vergessen!! ÖR jeden Tag von 12 – 1 !

    Gehab dich gut und mach weiter so!!

    Der Konsul aus Ostarichi

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Spagat zwischen Recht, Moral und Spannung

Nächster Artikel

Die brasilianische Eröffnung

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kuba und die Revolution

Kurzprosa | Menschen| Lee Lockwood: Castros Kuba. Ein Amerikaner in Kuba und Michael Zeuske: Kleine Geschichte Kubas Der erstmals in Deutschland veröffentlichte dokumentarische Bildband Castros Kuba gibt einen Einblick in die Ziele der Revolution und zeigt Fidel Castro als einen feinsinnigen und demagogisch begnadeten Politiker. Von BETTINA GUTIERREZ

Tage, Tage, Jahre

Kurzprosa | Literaturkalender 2022

Vielen dient er als Taktgeber und Orientierungshilfe, Kompass und kompakte Übersicht. Doch in der Verschmelzung mit Literatur erwächst eine tägliche Sinnesfreude und anregende Inspirationsquelle, die uns durch das ganze Jahr tragen kann. Wer sich jetzt schon einen Überblick verschafft, wird 2022 gut versorgt sein. INGEBORG JAISER kann einige bemerkenswerte Literaturkalender empfehlen.

Ein X oder ein U

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ein X oder ein U

Wenn nichts sonst, sagte Gramner, so müsse man doch das Ausmaß an Selbsttäuschung schätzen, zu dem der Mensch fähig sei.

Ein Scherz, sagte der Ausguck und lachte lauthals, er war guter Stimmung und hatte Lust, einen Salto zu schlagen.

Harmat blickte verständnislos.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Touste hielt die Augen geschlossen und träumte.

Alles verändert

Kurzprosa | Jostein Gaarder: Genau richtig »Vorhin war ich bei Marianne, und mir ist klar, dass von nun an alles verändert ist.« Mit diesem Satz des Lehrers Albert eröffnet der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder seine neue kurze Erzählung Genau richtig. Albert bekommt von seiner Ärztin Marianne, die zufällig auch seine Jugendliebe war, die Nachricht, dass er unheilbar an ALS erkrankt ist und sein Nervensystem peu à peu versagen wird. Vielleicht drei, wahrscheinlich aber nur etwas mehr als ein Jahr bleibt ihm, so die düstere Prognose der Medizinerin. Von PETER MOHR

Kulturrevolutionen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kulturrevolutionen

Er habe nachgedacht, räumte Farb ein, er sei neugierig geworden und habe sich informiert.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb warf einen Blick auf seine Tasse, er war vernarrt in den zierlichen rostroten Drachen, nur den Henkel, der sich im oberen Teil gabelte, fand er unpassend.

Tilman war ungeduldig. Farb hätte sich über Echnaton informiert? Wikipedia als Einstieg zum alten Ägypten?