Zufrieden, fragte er, ob er mit seinem Leben zufrieden sei, wolle sie wissen, weshalb.
Wie gereizt er reagiere, dachte sie, auf eine harmlose Frage, ungewöhnlich, dachte sie, er sei doch nicht cholerisch, sagte erst einmal nichts und schenkte Tee nach, Yin Zhen.
Er betrachtete das Service, den lindgrünen Drachen, er hatte es im vergangenen Jahr aus Beijing mitgebracht, ein Geschenk.
Die Sonne spendete wohltuende Wärme an diesem herbstlichen Nachmittag, sie hingen ihren Gedanken nach.
Zufrieden, wiederholte er schließlich, zufrieden sein mit seinem Leben, und spürte, wie ohnmächtiger Zorn in ihm aufwallte und jeden nüchternen Gedanken beiseite zu räumen drohte.
Anne schwieg, vertieft in den lindgrünen Drachen, sie trank einen Schluck Tee, sie liebte dieses Service.
Wie immer, stieß er hervor, wie immer verhalte es sich umgekehrt, und wenn beim Menschen auf nichts Verlaß sei, so doch auf seine Irrtümer, denn die Frage sei keineswegs, ob er mit seinem Leben zufrieden sei, sondern ob das Leben Grund habe, mit ihm zufrieden zu sein.
Anne schenkte ihm Tee nach, sie hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt.
Tilman atmete tief und entspannte sich.
Grundfalsch, sagte er. Zufrieden zu sein mit seinem Leben, das bedeute, auf Erfolge zurückzublicken, auf Siege, auf Errungenschaften gar, nicht besonders originelle Gedanken, die Tür und Tor öffnen würden für den Markt, für den Wettbewerb, diese abgegriffenen Kategorien, für individuelles Streben, für Ellenbogenfreiheit, für Sieger und Verlierer, für die gesamte schale Geschichte, für all die abgeschmackten Überzeugungen von gestern, die in die Sackgasse führen, Tilman steuerte endgültig in ruhiges Fahrwasser.
Anne schwieg.
Die Antwort, sagte Tilman, die Antwort laute: Nein, das Leben habe keinen Grund, zufrieden zu sein, weder mit ihm noch mit den Menschen im Allgemeinen, denn deren Aktivitäten seien lebensfeindlich, sie plünderten den Planeten unter dem Vorwand, Gutes zu tun, und berauschten sich an ihren Erfolgen, doch diese vermeintlichen Erfolge, die errungenen Siege seien kurzfristig, und die Zeit breche an, da er auslöffeln müsse, was er sich eingebrockt habe.
Verstehe der Mensch die Signale?
Nein, dafür sei es zu früh.
Obgleich der Planet lichterloh brenne, obgleich ihn Beben erschütterten, Vulkane ausbrächen, Wasser über ihre Ufer träten, obgleich Orkane wüteten und sich Unmengen Regen ergössen – zu früh?
Er tritt unbeirrbar auf, Anne, sein Vertrauen in den technologischen Fortschritt kennt keine rote Linie, in manchen Ländern forciert er den Ausbau der Kernenergie und weigert sich, den Kollaps des Klimas überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, er feiert Party, nimmt Urlaub oder geht seinen Geschäften nach. Nein, das Leben auf diesem Planeten kann nicht zufrieden sein mit dem Menschen, er ist weit mehr Totengräber denn bloß ein unerträglicher Störenfried, und wenn es auch nicht um die Existenz des Planeten geht, so doch um die seiner Lebewesen.
Die Bewahrung der Schöpfung?
Ein Trauerspiel, Anne. Sehenden Auges, aber ohnmächtig folgst du dem Artensterben, du siehst den Planeten zu einer gigantischen Müllhalde werden, nein, wer traut sich noch, davon zu reden, daß er zufrieden sei. Die Dinge sind, wie sie sind, Anne, wir verstehen sie nicht, und täglich nebulöser wird auch die Antwort auf die Frage, was denn das Leben sei, verstehst du, die Antwort gleitet uns aus den Händen, wir wissen sie weniger von Tag zu Tag, eine stolze Blüte, ein flüchtig Gut, und ist es vielleicht doch der tosende Orkan, in dem sich seit neuestem die Energie des Lebens sammelt, ist es die brodelnde Lava, ist etwa das hereinbrechende Gewitter ein Lebenszeichen, wir taumeln orientierungslos durch die uns zugemessene Zeit, wir wissen weniger von Tag zu Tag, nein, welcher Mensch hätte einen Grund, von Zufriedenheit zu reden.