Jugendbuch | Emily Trunko, Lisa Congdon: Ich wollte nur, dass du noch weißt …
Schlagen die Gefühle hohe Wogen, tut es manchen gut, sie niederzuschreiben. Nur für sich, ganz privat, in Tagebüchern oder als Brief. Zur Veröffentlichung ist das nicht gedacht. Früher jedenfalls. Heute geht die Post ab. Von MAGALI HEISSLER
Das Internet macht möglich, was lange Zeit unvorstellbar war. Bemühten sich Gesellschaften über Jahrhunderte, Privatheit zu entwickeln, sind viele ihrer Mitglieder auf einmal erstaunlich bereit, diese Errungenschaft über Bord zu werfen. Der Blog einer Jugendlichen aus Ohio, Emily Trunko, ist einer der Orte im WWW, an dem man ganz ohne Scheu das eigene Innere nach außen kehren kann. Die inzwischen Sechzehnjährige war, wie sie im Vorwort schreibt, auch einer derjenigen, die ihre Gefühle in Briefform niederlegte, ohne die Absicht, sie an die jeweiligen Angesprochenen zu schicken. Nach einiger Zeit kam sie auf den Gedanken, in der weiten Welt nachzufragen, ob es etwa Gleichgesinnte gibt. Es gibt sie. Geboren war Dearmyblank auf tumblr.
Tausende Jugendliche fühlten sich angesprochen und füllten den Blog mit ihren Gefühlen. Emily Trunk fühlt sich geehrt, schreibt sie, die Wahrerin ihrer Geheimnisse zu sein, während jede und jeder eben die allergeheimsten Gedanken anderer lesen kann. Die Unlogik schien niemanden zu stören.
Ein findiger Verlag hat ein Büchlein daraus gemacht und von Künstlerinnenhand aufs das Bunteste verzieren lassen. Nun liegt die Auswahl der innigsten, nie für die Öffentlichkeit gedachten »Briefe« auch auf Deutsch vor. So schön. Ja, und?
Chaos, aber bitte nur wohlerzogen
Was bei den ca. einhundertachtzig abgedruckten Briefen schnell auffällt, ist zum einen die Fertigkeit der – angeblich – jungen Absenderinnen und Absendern, sich schriftlich zu äußern, zum zweiten ihr rundum wohlerzogener Ton. Gleich, ob es um gescheiterte Liebesbeziehungen, Lebensängste, Familienkonflikte oder die Reaktion auf die Selbsttötung von Freundinnen oder Freunden geht, was in Worte gefasst erscheint, ist kontrolliert. Vokabular, Grammatik, Rechtschreibung, Aufbau – strikt Anfang, Mitte, Schluss – Einsatz rhetorischer Mittel, alles verdient nur die Bestnote. Nicht einmal der lange Brief einer jungen Legasthenikerin enthält einen Fehler.
Ebenso kontrolliert ist die Gefühlswelt. Es wird nicht geschimpft, verwünscht, gehadert. Schon gar nicht gehasst, gute Sitten behütet! Leid weht sanft durch die Zeilen, es ist längst überstanden und verarbeitet, in nicht wenigen Fällen zu Zuckerwatte. Die Erkenntnisse und Einsichten, die die Worte wiedergeben, sind in nicht wenigen Fällen so gereift, als sei Meister Yoda persönlich Taufpate der Verfasserinnen.
Sind das die Gedanken der Jugendlichen oder die ihrer Eltern, Lehrer/innen, von bewunderten Figuren aus Filmen oder aus dem Internet? Wohlsortiert, wohlerzogen sind diese Briefe noch im tiefsten Schmerz. Niemand muss sich schämen, auch in zwanzig Jahren nicht, wenn einem so ein Erguss erneut in die Hände fällt. Im Gegenteil, man kann ihn an die Wand hängen und sogar den Enkelkindern der Nachbarin vorlesen. Kein Teenagerslang, keine persönlichen Abkürzungen, kein aktueller Hype, nichts. Klinisch rein ist das alles. Ebenso wenig wird erwähnt, was in der Welt vorgeht. Aber wir wissen ja alle, dass es sich nicht gehört über Geld, Religion, Politik und Sex zu sprechen.
Eingefärbt
Liest man einzelne Briefe und vor allem nicht zu viele auf einmal, stößt man durchaus auf Berührendes, eine besondere Formulierung, eine ausgefallene Liebeserklärung, eine aufblitzende Wahrheit, einen Eindruck von Wahrhaftigkeit, die den Moment überdauert. Insofern gewinnt man durchaus etwas bei der Lektüre. Die Frage, wie wahr das alles zusammengenommen ist, bleibt dennoch.
Dass die Sterilität nicht Oberhand gewinnt, ist letztlich der Verdienst der Illustratorin Lisa Congdon. Sie präsentiert jeden Brief als kostbares Einzelstück in Farbe und Muster. Ihre Farben sind kräftig, die Muster vermeintliche Kritzeleien, ein bisschen schief handgezeichnet wie aus einem Schulheft oder rasch hingemalt auf dem Block. Die Bilderwelt ist einfach, Alltagsgegenstände werden wiedergegeben, meist durch Anregungen aus den Texten. Ein Spiegel, ein Herz im Käfig, ein Herz aus Stacheldraht gewunden, kleine Tränen in allen Farben, Blumen, Vögel, die in die Freiheit flattern. Puzzleteile, Schere und zwei Augen, die erstaunt in die Welt schauen. Orangegelb und Blaugrün sind entscheidend, Sonnenschein und Regenhimmel. Das färbt die Stimmung beim Lesen. Congdon bemüht sich aber, möglichst wenig Einfluss zu nehmen und tatsächlich muss sie sich nur an einer Stelle den Vorwurf gefallen lassen, interpretiert zu haben.
Die Lektüre scheint für Teenager ideal, gibt die Sammlung doch Einblicke in ihre Gefühlswelt. Angeblich geheime Einblicke noch dazu. Voyeurismus as usual, also. Wie gut, dass wir wissen, dass man nicht einfach alles für bare Münze nehmen kann, was man im Internet findet.
Titelangaben
Emily Trunko, Lisa Congdon: Ich wollte nur, dass du noch weißt … Nie verschickte Briefe
(Dear My Blank, 2016). Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nadine Mannchen
Bindlach: Loewe Verlag 2017
192 Seiten, 14,95 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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