Alles auf Anfang

Roman | Tabea Hertzog: Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer

Vieles ist schlichtweg eine Frage der Sichtweise: ›Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer‹. Eine fantasievolle Vorstellung, wenn der eigene Mikrokosmos in Wirklichkeit durch Krankenhausflure und Wartezimmer begrenzt wird, mit Blick auf Katheter, Kanülen, Drainagen. Tabea Hertzog berichtet in ihrem Debütroman mit bewundernswerter Leichtigkeit von einer existentiellen Erkrankung und dem schmalen Grat zwischen dem Leben der Kranken und der Gesunden. Von INGEBORG JAISER

Wenn man den Himmel umdreht - 500Wer schon einmal mit einer verheerenden medizinischen Diagnose konfrontiert wurde, kennt das beklemmende Gefühl: für einen Moment scheint die Zeit still zu stehen, danach stellt sich jeder noch so kleine Lebensaspekt in Frage. »Das, was am meisten zerrt in diesem Augenblick? Dass alle Pläne anders gefasst werden müssen.«

Tabea Hertzog trifft das Bewusstsein jäher Bodenlosigkeit kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag. Eine chronische Niereninsuffizienz zwingt sie alle zwei Tage zur Dialyse, legt gar eine Organtransplantation nahe. Das Auslandsstipendium, alle Reisepläne sind mit einem Schlage obsolet. »Plötzlich ist Zeit so irrelevant und gleichzeitig so bedeutend geworden.«

Aura von Zerbrechlichkeit

Blitzartig wird Tabea Hertzog vom Lager der Gesunden ins Reich der Kranken katapultiert, wie auf einer rotierenden Drehbühne im Theater. Neue Kulissen, neue Spielregeln, neue Handlungen. Mutig, mit nüchterner Neugier fügt sie sich in eine bislang unbekannte Rolle. Vage scheint im Hintergrund noch das frühere Leben durch – mit Reisen, Sport und Fotografie. Jetzt diktiert die Regelmäßigkeit der Blutwäsche und die Dringlichkeit einer Spenderniere das Dasein. Wahrnehmungssplitter fügen sich zu einem neuen Alltag zusammen: die Signale des Dialysegeräts, das Fauchen des Ultraschalls, die Essensvorlieben von Mitpatienten.

Das Leid lässt sich nur in den Leerstellen dazwischen erahnen. Doch nie kann den Leser der Vorwurf des Voyeurismus treffen, dazu geht die Autorin zu sorgsam, zu rücksichtsvoll vor. Eine besonnene Distanz liegt über vielen Schilderungen. Scheinbar Banales wie belanglose SMS-Nachrichten oder Ausblicke aus dem Fenster federn die medizinischen Schrecken ab. Doch Fotos von Tabea Hertzog zeigen eine blasse, zarte junge Frau mit fast durchsichtiger Haut und einer Aura von Zerbrechlichkeit. Auch wenn der Hang zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit dominiert: »Die Traurigkeit ist eine stetige Schwere.«

Ungewohnte Nähe

Nach einem ärztlichen Angehörigengespräch tritt eine unerwartete Wende ein. Während die Mutter, bei der Tabea Hertzog aufgewachsen ist, in Schweigen und Unerreichbarkeit flieht, stimmt der Vater, der die Familie früh verlassen und nie Unterhalt gezahlt hat, spontan einer Organspende zu. Anlass für eine neue Familienaufstellung? Tabea Hertzog konstatiert: »Ich habe gelesen, jede Niere stehe für einen Elternteil. Das halbe Leben war mein Vater nicht da. Jetzt meine Mutter.« Die existentielle Ausnahmesituation stellt auch Beziehungen, Freundschaften in ein verändertes Licht, rollt die Vergangenheit neu auf.

Der Weg bis zur Organtransplantation ist aufreibend, nicht ohne Hindernisse. Dass sich Vater und Tochter vor und nach dem Eingriff tagelang ein Krankenhauszimmer teilen, erzwingt eine ungewohnte Nähe. Als sich Tabea Hertzog nach erfolgreicher Operation, kurz vor der Entlassung, heimlich in Badelatschen zum nahen Lidl-Supermarkt davonstiehlt, ist sie beseelt und übermannt vom Gefühl der Freiheit. Die Beschreibung dieser winzig kleinen Flucht (»Es fühlt sich an, wie Freizeit von etwas zu haben, ungefragt. Ich mag den Gedanken, dass niemand weiß, wo ich bin.«) lässt beim Leser große Dankbarkeit aufflackern, für jede Alltäglichkeit, jeden selbstbestimmten Schritt. Denn selbstverständlich ist im Leben gar nichts.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Tabea Hertzog: Wenn man den Himmel umdreht, ist er ein Meer
München, Berlin: Berlin Verlag 2019
221 Seiten, 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eisiges Schweigen

Nächster Artikel

Heimkehr des Haifischmenschen: Zur Rückgabe des afrikanischen Kulturerbes

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ausflug zum Mars

Roman | Reinhard Jirgl: Nichts von euch auf Erden Nichts von euch auf Erden – der neue Roman von Büchner-Preisträger Reinhard Jirgl. Gelesen von PETER MOHR

Kassandra verstummt nicht

Roman | Friedrich Christian Delius: Wenn die Chinesen Rügen kaufen, denkt an mich

»Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrungen heraus«, hatte Friedrich Christian Delius 2013 in einem Interview über seine eigene Arbeit erklärt. Ein spürbarer politischer Klimawechsel, gewaltige Veränderungen in der Medienlandschaft und handfeste Probleme mit dem Älterwerden sind die zentralen Motive im neuen, etwas sperrigen Erzählwerk des Georg-Büchner-Preisträgers von 2011. Von PETER MOHR

Die Banalität des Guten – Vorabdruck

Roman | Manfred Wieninger: Die Banalität des Guten Anfang Oktober erscheint Manfred Wieningers Roman in Dokumenten ›Die Banalität des Guten‹. Lesen Sie auf TITEL kulturmagazin das erste Kapitel im Vorabdruck:

Ungleiche Freunde

Roman | Torsten Schulz: Nilowsky Torsten Schulz’ neuer Roman Nilowsky portraitiert Berlin und schwierige Beziehungen seiner Bewohner. Gelesen von PETER MOHR

Zurück aufs Surfbrett, aber schnell!

Roman | Don Winslow: Vergeltung Mit der (Wieder-) Entdeckung von Don Winslow hat sich der Suhrkamp Verlag, der, als er begann, Thriller zu publizieren, erst einmal misstrauisch von allen Seiten beargwöhnt sah, schnell Respekt verschafft. Literatur und Nervenkitzel – das bewies der heute 60-Jährige mit jedem neuen Roman – gingen durchaus zusammen. Wo blutig gemetzelt wurde, musste nicht automatisch der Stil leiden. Von DIETMAR JACOBSEN