Umdenken

Gesellschaft: Jürgen Todenhöfer: Die große Heuchelei

Der Klimakollaps ruft zu fundamentalen Veränderungen auf, und das betrifft selbstverständlich unser eigenes Bild von den Ereignissen – wir müssen unsere Verantwortung für den Lauf der Dinge erkennen, die Fakten neu sortieren und gegebenenfalls die Geschichte neu schreiben. Von WOLF SENFF

Die grosse HeucheleiDazu leistet Jürgen Todenhöfer einen wertvollen Beitrag – Bücher wie diese tun bitter nötig, weil sie zum einen hysterische Gestimmtheit dämpfen, zum anderen aus Schlafmützigkeit aufrütteln und außerdem den überall äußerst aktiven Scharfmachern den Wind aus den Segeln nehmen, sie führen uns auf den nüchternen Boden der Tatsachen plus, besser noch, sie öffnen uns die Augen für das reale, unverfälschte Geschehen.

Machtpolitik

Und es ist höchst erfreulich zu sehen, daß dieses Buch bereits kurz nach Erscheinen auf einem der vorderen Plätze der Bestsellerlisten steht, und zwar eher nicht aufgrund von Diskussionen in den führenden Medien, sondern aufgrund der Präsenz des Autors im Internet.

Mit Kriegen Menschenrechte verwirklichen – das war schon vor dem gegenwärtigen US-Präsidenten eher ein Schenkelklopfer. Nein, man kann Jürgen Todenhöfer nicht widersprechen, es geht allein um Machtpolitik in einer Welt, die von den USA geordnet wird.

Vor der eigenen Tür kehren

Oder auch wenig geordnet. Denn offensichtlich haben die USA ein Interesse daran, die Staaten des Mittleren Ostens dauerhaft zu destabilisieren und Afghanistan, so Todenhöfer, mit vier großen Luftwaffenstützpunkten als einen Flugzeugträger mit potentiellem Zugriff auf den Fernen Osten zu installieren. Das leuchtet ein. Wir vernehmen zurzeit klare Ansagen aus den USA, nicht einmal deren Botschaftspersonal übt noch Zurückhaltung.

Wenn es also an der Zeit ist für offene Worte, schulden wir Jürgen Todenhöfer Dank. Er überzeugt auch mit dem Hinweis darauf, dass es höchste Zeit wäre für die USA, vor der eigenen Türe zu kehren und die himmelschreienden innenpolitischen Versäumnisse anzugehen.

Kriegstreiber USA

Bei einem Rüstungsetat, man höre und staune, von rund sechshundertzehn Milliarden Dollar (2017). Der ›böse Russe‹ begnügte sich mit einundsechzig Milliarden Dollar (2017).
Im Übrigen – davon lesen wir nichts in den hiesigen Leitmedien – werden die USA in einer weltweit durchgeführten Gallup-Umfrage genauso eingeschätzt: als die Nation, von der weltweit die größte Kriegsgefahr ausgehe.

Kein Stehvermögen

Jürgen Todenhöfer sucht seit Jahren unter Lebensgefahr die Zentren des Blutvergießens auf, der Leser gewinnt zurecht den Eindruck, aus erster Hand und unvoreingenommen informiert zu werden.
Informiert auch über aufschlussreiche Details, die in der heimischen Presse nicht oder in einem Dreizeiler wiedergegeben sind, so etwa über die Tatsache, dass die Bundeskanzlerin im Syrien-Krieg hätte vermitteln können, aber den Konflikt mit den USA scheute, ihr fehlte das Stehvermögen.

Kriege und Flucht

Andere Details sind nur erschütternd, man erschrickt über die Kaltblütigkeit der kriegführenden Staaten, die Kriegstreiber sind durchweg Staaten des Westens und ihre Verbündeten, die Bevölkerung, so Todenhöfers Quintessenz, werde in der Frage von Krieg und Frieden systematisch belogen – Todenhöfers Ausführungen zur Rolle der führenden Medien sind sachlich fundiert und überzeugend.
Der Bericht über die hochdramatische Flucht des dreizehnjährigen Alan, der sich unter Tränen von seiner Familie trennt und Tausende Kilometer zurücklegt, wäre eine Zierde für unsere etablierten Medien.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Jürgen Todenhöfer: Die große Heuchelei
Wie Politik und Medien unsere Werte verraten
Berlin: Ullstein 2019
330 Seiten, 19,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Folkdays aren’t over… Political Correctness and Country Noir

Nächster Artikel

Music From The Margins: New Albums Reviewed

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Einige ziehen blank, andere Bilanz

Gesellschaft | Ulrike Heider: Vögeln ist schön »Sexualität ist gefährlich und schmutzig. Sexualität ist gut und sorgt für Frieden. Sexualität ist weiblich. Sexualität ist Identität. Sexualität ist Macht und kommt vom Verbot. Sexualität ist Verhandlungssache.« Das ist der Sex der letzten fünfzig Jahre. Vieles wurde verworfen, einiges wiederholt. Fasziniert von der Gegensätzlichkeit der Beschreibungen begibt sich Ulrike Heider in ›Vögeln ist schön‹ auf die Suche nach dem Sexualbegriff ihrer eigenen Lebenszeit. Während der Betrachtung der wichtigsten sexualpolitischen Ereignisse und der Analyse philosophischer Klassiker, zeitgenössischer Literatur und Filme, kommt sie nicht umhin ihre ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Mit der Würze

Lauter, nicht anders als die anderen

Gesellschaft | Raif Badawi, Constantin Schreiber (Hg.): 1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke

Der inhaftierte saudische Journalist Raif Badawi wird zum Symbol deklariert. ›1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke‹, die Sammlung seiner Blogartikel, zeigt: Er möchte lieber nur ein Symptom sein. Von JAN FISCHER

Die Systemfrage?

Gesellschaft | Raul Zelik, Elmar Altvater, Vermessung der Utopie Wer hätte geglaubt, dass den unzähligen kapitalismuskritischen Publikationen inhaltlich Neues hinzuzufügen wäre. Auf vielen Seiten in einem unauffällig daherkommenden kleinformatigen Bändchen sprechen Raul Zelik und Elmar Altvater erstaunlich viele originelle Aspekte an. Von WOLF SENFF

Eine Ahnung von Dunkelheit, ein unstillbares Heimweh

Kulturbuch | László F. Földényi: Lob der Melancholie

Wenn einer etwas zur Melancholie zu sagen hat, dann ist es der ungarische Geisteswissenschaftler László F. Földényi. In seinem neuesten Essayband versammelt er Gedanken zu melancholisch-metaphysischen Abgründen in Architektur, bildender Kunst und Film. Und überrascht dabei mit seinem Gespür für die Körperlichkeit der Melancholie, die »mehr ist als nur ein Gefühl.« Von JALEH OJAN

Realityshow Russland

Gesellschaft | Peter Pomerantsev: Nichts ist wahr und alles ist möglich. Wer als TV-Journalist von London nach Moskau kommt, den erwartet ein Medienzirkus, der wenig mit westlichen Werten wie der Pressefreiheit gemein hat. Unterhaltsam und positiv müssen die Geschichten sein, das ist die Hauptsache. Peter Pomerantsev, der Mann, den es in die Hauptstadt Russlands zog, hat neun Jahre lang nach ihnen gesucht, dabei viel gesehen und erlebt – von besonders schönen Erlebnissen berichtet er allerdings selten. Von STEFFEN FRIESE